Die Jahre mit Laura Diaz
sie, wenn sich das Haus mit Liebe und Lärm füllte.
»Dein Onkel Santiago hat nie seine Schlafzimmertür zugemacht.«
Das Haus mit einer glücklichen Liebe füllen. Laura wollte das junge, schöne Paar von Anfang an beschützen, vielleicht auch, weil bei diesem weihnachtlichen Festessen noch ein anderes Paar mit am Tisch saß, das sich erst nach dreißig Jahren vereint hatte und glücklich geworden war.
Basilio Baltazar hatte graue Haare bekommen, das zigeunerische, dunkle, scharfgeschnittene Profil aus seiner Jugend war ihm jedoch geblieben. Pilar Méndez hingegen zeigte die Verwüstungen eines an Schicksalsschlägen und Bedrängnissen reichen Lebens. Es ging nicht um körperliche Entbehrungen, sie hatte keinen Hunger gelitten, ihr Elend war innerlich, ihr Gesicht offenbarte die Spuren der Zweifel, der zwiespältigen Freundschaftsbande, des ständigen Zwangs, sich entscheiden zu müssen und Wunden mit Liebe zu heilen, die Familienmitglieder, politische Freunde und Feinde und selbstverständlich die eigenen Wahnvorstellungen durch ihre Grausamkeit geschlagen hatten. Die Frau mit dem aschblonden Haar und den schadhaften Zähnen, deren iberisches Profil immer noch wirkte – eine Mischung aus Mohammedanern und Goten, Juden und Römern, als zeichnete sich in ihrem Gesicht die Landkarte ihres Vaterlandes ab. Und sie bewahrte die harten Worte in ihrem Gedächtnis, die man, wie in einer antiken Tragödie, vor der klassischen Szenerie des lateinischen Tors von Santa Fe gesprochen hatte.
»Die größte Treue besteht darin, ungerechten Befehlen nicht zu gehorchen.«
»Retten Sie sie im Namen der Ehre.«
»Hab Erbarmen.«
»Der Himmel ist voller Lügen.«
»Ich sterbe, damit mein Vater und meine Mutter sich für immer gegenseitig hassen.«
»Sie muß im Namen der Gerechtigkeit sterben.«
»Welcher Teil des Leids kommt nicht von Gott?«
Laura sagte zu Pilar, daß Santiago und Lourdes ein Recht darauf hätten, von dem Drama zu erfahren, das 1937 in Santa Fe geschehen sei.
»Es ist eine uralte Geschichte«, entgegnete Pilar.
»Es gibt keine Geschichte, die sich nicht in jeder Zeit wiederholt.« Laura streichelte die Hand der Spanierin. »Das sage ich dir.«
Pilar erklärte, sie habe sich damals angesichts des Todes nicht beklagt und wolle es auch jetzt nicht tun. Klagen vergrößerten nur den Schmerz. Sie seien überflüssig.
»Wir haben alle geglaubt, man hätte sie an jenem Morgen damals vor den Stadtmauern erschossen«, sagte Basilio. »Dreißig Jahre lang haben wir das geglaubt.«
»Warum?«
»Weil dein Vater es uns erzählt hat. Er war einer von uns, der kommunistische Bürgermeister von Santa Fe, natürlich haben wir es geglaubt.«
»Es gibt kein besseres Schicksal als einen unbekannten Tod«, erklärte Pilar und sah den jungen Santiago an.
»Warum, Señora?«
»Wenn man dich kennt, Santiago, mußt du die einen rechtfertigen und die anderen verdammen, und am Ende verrätst du alle.«
Basilio wollte den jungen Leuten sagen, was er Laura schon erzählt hatte, als er Urlaub erbeten hatte und in aller Eile nach Mexiko zurückgekehrt war, um seine Frau wiederzusehen, seine Pilar. Don Ălvaro Méndez, der Vater Pilars, hatte an jenem Morgen die Hinrichtung seiner Tochter nur vorgetäuscht und das Mädchen in einem verfallenen Haus in der Sierra de Gredos versteckt. Dort sollte es ihr an nichts fehlen, solange der Krieg dauerte, die Besitzer des nächsten Bauernhofs hielten sich aus dem Konflikt heraus und waren mit Don Ălvaro und Dona Clemen-cia befreundet. Sie würden niemandem etwas verraten. Trotzdem sagte Pilars Vater seiner Frau Clemencia nichts. Die Mutter des Mädchens hielt an der Überzeugung fest, daß ihre Tochter eine Märtyrerin der nationalen Bewegung war. Das verkündete sie laut, als Franco gesiegt hatte. Don Ălvaro wurde am selben Ort standrechtlich erschossen, an dem eigentlich seine Tochter hatte sterben sollen. Die Mutter pflegte den Kult ihrer Märtyrertochter, sie weihte die Stätte, an der Pilar angeblich gestorben war. Die Leiche wurde nie gefunden, die Roten hatten sie gewiß in ein Massengrab geworfen.
Die Heldin Pilar Méndez, die von den Roten hingerichtete Märtyrerin, wurde in das Heiligenverzeichnis der Falange aufgenommen, während die wahre Pilar, die sich in den Bergen verborgen hielt, ein unsichtbares Leben führte. Zu Anfang wurde sie von zwiespältigen Gefühlen hin- und hergerissen und wußte nicht, ob sie zurückgehen und die Wahrheit sagen oder sich verstecken und
Weitere Kostenlose Bücher