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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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sind?« schloß auch Santiago. »In den Statuen, die von Nachtvögeln und Papageien, den Rednern der PRI, vollgekackt sind?«
    Es würde nichts nützen, wenn sie ihn warnte. Er hatte mit seinen Eltern gebrochen, sich mit seiner Großmutter identifiziert, die mit ihm, sie beide, Laura und Santiago, in einer Nacht mitten auf dem Zocalo gemeinsam niedergekniet war, gemeinsam hatten sie das Ohr an den Boden gedrückt und gemeinsam gehört, daß der blinde Aufruhr der Stadt und des Landes bald losbrechen würde.
    »Die Hölle Mexikos«, sagte nun Santiago. »Sind Verbrechen, Gewalt, Korruption und Armut unabwendbar?«
    »Rede nicht, Sohn. Höre zu. Bevor ich fotografiere, höre ich immer erst zu…«
    Sie wollte für ihre Nachkommen eine helle, freie Gesellschaft. Die beiden hoben das Gesicht vom eiskalten Stein und sahen sich liebevoll an. Laura wußte, daß Santiago handeln würde, wie er es tat, sie wollte ihm nicht sagen: Du hast Frau und Kind, bringe dich nicht in Schwierigkeiten. Sie war nicht Danton, nicht Juan Francisco, sie war Jorge  Maura, sie war der Gringo Jim an der Jarama-Front, ihr in Veracruz erschossener Bruder Santiago. Sie war wie all jene, die an allem zu zweifeln vermochten, sich um keinen Preis untätig mit allem abfinden würden.
    Bei jedem Marsch, jeder Rede, jeder Universitätsversammlung verkörperte Santiago den Wandel, und seine Großmutter begleitete und fotografierte ihn. Er ließ sich nicht davon beeindrucken, daß er fotografiert wurde, und Laura betrachtete ihn mit der Liebe einer Genossin: Mit ihrer Kamera nahm sie alle Episoden des Wandels auf. Machmal lag diesem Wandel Ungewißheit zugrunde, manchmal Gewißheit, doch schließlich war jede Gewißheit, in Taten und Worten, weniger gewiß als der Zweifel. Die Gewißheit war das am wenigsten Gewisse.
    Laura spürte während der Kampftage der Studentenrebellion, im Schein der Sonne und der Fackeln, daß der Wandel gewiß war, in all seiner Ungewißheit. In ihren Erinnerungen ließ sie die Heilslehren vorüberziehen, die sie in ihrem Leben gehört hatte, von der beinahe prähistorischen Frontstellung der französischen und britischen Alliierten gegen die Mittelmächte im Krieg von 1914 bis zum kommunistischen Glauben Vidais und dem anarchistischen Basilios, dem republikanischen Glauben Mauras und dem franquistischen Pilars, dem jüdisch-christlichen Glauben Raquels und auch der zwiespältigen Haltung Harrys, dem Opportunismus Juan Franciscos, dem unersättlichen Zynismus Dantôns und der Geistesfülle des toten Santiago, ihres ersten Sohnes.
    Ihr Enkel, der neue Santiago, hatte sie alle über seine Großmutter Laura Dïaz beerbt, ob er es wußte oder nicht. Die Jahre mit Laura Dïaz hatten den Weg des »neuen« Santiagos, so nannte sie ihn, vorgezeichnet, als wäre er der neue Apostel Jakobus in der langen Reihe von Namensvettern des Sohnes des Zebedäus, der eines Nachts im Garten Gethsemane Zeuge der Verklärung Christi geworden war. Die Jakobusse, die »Donnersöhne«, hatten alle einen gewaltsamen Tod gefunden. Jakobus den Älteren hatten die Schwerter des Herodes durchbohrt. Jakobus der Jüngere wurde auf Anordnung des Sanhédrins mit Stockschlägen getötet.
    Die Geschichte kannte zwei Heilige mit dem Namen Jakobus, sie, Laura, hatte schon vier desselben Namens; ein Name, sagte sie sich, ist die Offenbarung unseres tiefsten Wesens. Laura, Lourdes, Santiago.
    Der Glaube ihrer Freunde und Geliebten über die Jahre war heute der Glaube ihres Enkels, der mit Hunderten von jungen Mexikanern, Männern und Frauen, auf der Plaza de las Très Cul-turas ankam, dem uralten aztekischen Zeremonialzentrum von Tlatelolco, das allein vom ersterbenden Abendlicht im uralten Tal von Anâhuac erhellt wurde. Alles war hier alt, dachte Laura Dïaz, die indianische Pyramide, die Kirche, das Kloster und die Lehranstalt der Franziskaner, aber auch die modernen Gebäude, das Außenministerium, die Mehrfamilienhäuser, vielleicht war das Neueste am ältesten, weil es am wenigsten standhielt, es wurde bereits rissig und farblos, überall gab es zerbrochene Fensterscheiben, aufgehängte Wäsche, die Tränen allzu vieler Regenfälle und Schluchzer, die sich über die Mauern ergossen hatten: Die Laternen auf dem Platz und die Scheinwerfer der Prachtbauten leuchteten auf, die Innenräume wurden sichtbar, Küchen, Terrassen, Wohn- und Schlafzimmer. An einer Seite liefen Hunderte von jungen Leuten auf den Platz, die von überallher von Dutzenden Soldaten eingekreist

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