Die Jahre mit Laura Diaz
wurden, auf den Dächern erschienen unruhige Schatten, Fäuste in weißen Handschuhen reckten sich empor, und Laura fotografierte die Gestalt ihres Enkels Santiago, sein weißes Hemd, sein albernes weißes Hemd, als verlangte er selber danach, zur Zielscheibe der Kugeln zu werden, als sagte seine Stimme: Großmutter, wir finden keinen Platz in der Zukunft, wir Jungen wollen eine Zukunft, die uns Platz gibt, nicht die, die mein Vater für uns vorgeplant hat, und Laura nickte, an der Seite ihres Enkels hatte auch sie verstanden, daß die Mexikaner zeitlebens von einem anderen Land geträumt hatten, einem besseren Land, wie schon Großvater Felipe, der von Deutschland nach Catemaco gekommen war, wie Großvater Dïaz, der aus Teneriffa nach Veracruz ausgewandert war, sie alle träumten von einem besseren Land, einem arbeitsamen, ehrlichen Land, wie der erste Santiago von einem gerechten Land träumte, der zweite Santiago von einem kreativen, geradlinigen Land, und der dritte Santiago, der heute, in dieser Nacht des 2. Oktober 1968, inmitten einer Studentenmenge den Platz von Tlatelolco betrat, trug den Traum seiner Vorgänger weiter, und als Laura ihn auf den Platz kommen sah und ihn fotografierte, sagte sie: »Heute ist mein Enkel der Mann, den ich liebe.«
Sie schoß mit ihrer Kamera, die Kamera war ihre Waffe, und sie nahm nur ihren Enkel auf, obwohl sie wußte, wie ungerecht das war, auf den Platz strömten Hunderte junger Männer und Frauen und forderten ein neues Land, ein besseres Land, ein sich selbst treues Land, und sie, Laura Dïaz, hatte nur Augen für ihr eigen Fleisch und Blut, für den Helden aus ihrem Geschlecht, einen dreiundzwanzigj ährigen Jungen mit zerzaustem Haar, weißem Hemd, braunem Gesicht, honiggrünen Augen, sonnenhaften Zähnen und kräftigen Muskeln.
Ich bin deine Gefährtin, sagte Laura von weitem zu Santiago. Ich bin nicht mehr die Frau, die ich einmal war, heute nacht gehöre ich dir, ich verstehe dich, wie ich Jorge Maura und den Gott verstehe, den er anbetet und um dessentwillen er den Fußboden des Klosters auf Lanzarote ableckt, ich sage ihm, mein Gott, nimm mir alles, was ich gewesen bin, gib mir Krankheit, gib mir den Tod, gib mir Fieber, Geschwüre, Krebs, Schwindsucht, gib mir Blindheit und Taubheit, reiß mir die Zunge heraus und schneide mir die Ohren ab, mein Gott, wenn es notwendig ist, damit mein Enkel, mein Land gerettet wird, töte mich, damit mein Vaterland und meine Kinder gesund bleiben, danke, Santiago, weil du uns alle gelehrt hast, daß es noch Dinge gibt, für die man in diesem verschlafenen, selbstzufriedenen, betrogenen und betrügerischen Mexiko des Jahres 1968, des Olympiajahres, kämpfen kann, danke, mein Sohn, weil du mich den Unterschied zwischen Leben und Tod gelehrt hast.
Der Aufruhr auf dem Platz glich jenem Erdbeben, das den Engel am Paseo de la Reforma von seiner Säule gestürzt hatte, Laura Dïaz' Kamera schwenkte hoch zu den Sternen und sah nichts mehr, zitternd drehte sie sich nach unten und entdeckte das Auge eines Soldaten, das sie wie eine Narbe anstarrte, die Kamera schoß, und die Gewehre schössen und erstickten die Lieder, Losungen und Rufe der Jugendlichen, und bald folgte eine entsetzliche Stille, in der man nur noch die Seufzer der Verwundeten und Sterbenden hörte, Laura suchte die Gestalt Santiagos und sah nichts als weiße Handschuhe an einem Firmament aus Fäusten, »Pflichterfüllung« und Sternen, die unfähig waren, etwas über das Geschehene zu erzählen.
Mit Kolbenschlägen verjagte man Laura vom Platz, man vertrieb sie nicht, weil sie Laura war, die Fotografin, die Großmutter Santiagos, man vertrieb die Zeugen, man wollte keine Zeugen. Laura versteckte ihre Filmrolle unter dem weiten Rock, an ihrem Geschlecht, den Geruch des Todes konnte sie nicht mehr fotografieren, er stieg von dem Platz auf, der mit dem Blut junger Menschen getränkt war. Der geblendete Himmel der Nacht von Tlatelolco, sie konnte ihn nicht mehr festhalten, konnte nicht mehr diese allumfassende Angst des großen städtischen Friedhofs abbilden, die Seufzer, die Schreie, die Echos des Todes. Die Stadt verfinsterte sich.
Hat nicht einmal Danton Pérez-Dïaz, der mächtige Don Danton, das Recht, den Leichnam seines Sohns zu holen? Nicht einmal er?
Welches Recht haben die junge Witwe und die Großmutter Santiagos, des jungen Rebellenführers? Wenn sie wollen, dürfen sie durch das Leichenschauhaus gehen und die Leiche identifizieren. Als ein Zugeständnis
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