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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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an den Herrn Anwalt Don Danton, einen persönlichen Freund des Herrn Präsidenten Don Gustavo Dïaz Ordaz. Sie dürfen ihn sehen, ihn aber nicht mitnehmen und beerdigen. Es wird keine Ausnahmen geben. Am dritten Oktober 1968 wird es in Mexico-Stadt keine fünfhundert Leichenzüge geben. Die würden den Verkehr blockieren. Das würde die Ordnung stören.
    Laura und Lourdes betraten den eiskalten Saal, in dem ein sonderbares perlfarbenes Licht die nackten Leichen beschien. Sie lagen auf aufgebockten Holzplatten.
    Laura hatte Angst, daß der Tod die Persönlichkeit der nackten Opfer auslöschte. Das wäre der endgültige Sieg eines brutalen, von Eitelkeit, Arroganz, Angst und Grausamkeit um den Verstand gebrachten Präsidenten.
    »Ich habe niemanden getötet. Wo sind die Toten? Na los, sie sollen etwas sagen. Sie sollen reden. Mir mit irgendwelchen Toten zu kommen!«
    Für den Präsidenten waren sie keine Toten. Sie waren Unruhestifter, Umstürzler, Kommunisten, Ideologen des Verderbens, Feinde des Vaterlands, das sich in der Präsidentenschärpe verkörperte. Nur daß in der Nacht von Tlatelolco der Adler aus der Schärpe verschwand, er flog in weite Ferne, und die Schlange schämte sich und wechselte lieber die Haut. Der Feigenkaktus wurde von Würmern zerfressen, und das Wasser des Sees geriet wieder in Brand. Der See von Tlatelolco. Der Opferthron: Von der Pyramidenspitze wurde im Jahre 1473 der König der Tlatil-cas hinabgeworfen, um die Macht der Azteken zu sichern, von der Pyramidenspitze wurden die Götzenbilder hinabgestürzt, um die Macht der Spanier zu sichern. An seinen vier Seiten wurde Tlatelolco vom Tod eingeschlossen, dem Tzompantli, der Mauer der eng zusammengedrängten, übereinanderliegenden Schädel, die sich zu einer riesigen grabesdüsteren Kette verbanden, Tausende Schädel bildeten Schutzwehr und Warnung der Macht, die in Mexiko immer wieder auf dem Fundament des Todes errichtet wurde.
    Aber die Toten waren unverwechselbar, kein Gesicht glich dem anderen, jeder Körper ließ sich von den übrigen unterscheiden, jeder hatte seine eigene Haltung. Jede Kugel hatte ein anderes Blumenmuster auf Brust, Kopf oder Schenkel gezeichnet, jedes männliche Geschlechtsteil ruhte in einer anderen Lage, jedes weibliche war eine einzigartige Wunde. Darin bestand der Triumph der jungen Ermordeten, damit überwanden sie eine straffreie Gewalt, die von vornherein wußte, daß sie mit einem Freispruch rechnen konnte. Als Präsident Gustavo Dïaz Ordaz zwei Wochen später die Olympischen Spiele eröffnete, ließ er einen Schwärm Friedenstauben aufsteigen und zeigte ein zufriedenes Lächeln, das so breit war wie seine blutbefleckte Visage. In der Präsidentenloge saßen mit einem Nationalstolz bekundenden Lächeln die Eltern Santiagos, Don Danton und Dona Magdalena. Das Land war dank der unerbittlichen Tatkraft des Herrn Präsidenten zur Ordnung zurückgekehrt.
    Als sie den Körper Santiagos im improvisierten Leichenschauhaus fanden, warf sich Lourdes weinend auf den nackten Leichnam, Laura streichelte die Füße ihres Enkels und befestigte ein kleines Schild an Santiagos rechtem Fuß:
    »Santiago der Dritte
    1944 – 1968 eine Welt, die noch zu schaffen ist.«
    Die alte und die junge Frau umarmten sich und betrachteten Santiago zum letzten Mal. Als sie hinausgingen, empfanden beide eine allgegenwärtige, unbestimmte Angst. Santiago war mit schmerzhaft verzerrtem Gesicht gestorben. Laura hatte von ganzem Herzen gewünscht, daß der Tote lächelte und dem Leichnam und ihnen den Frieden wiedergäbe.
    Es ist eine Sünde zu vergessen, es ist eine Sünde, wiederholte sie immer wieder, und zu Lourdes sagte sie: »Hab keine Angst.« Doch die junge Witwe fürchtete sich. Immer wenn es an die Tür klopfte, fragte sie sich: Ob er es ist, ob es ein Gespenst ist, ein Mörder, eine Maus, eine Kellerassel?
    »Laura, wenn du die Möglichkeit hättest, jemanden wie einen Skorpion in einen Käfig zu sperren und ihn ohne Wasser und Brot an die Wand zu hängen…«
    »Denk nicht daran, Tochter. Das verdient er nicht.«
    »Laura, woran denkst du sonst noch, außer an ihn?«
    »Ich denke, daß es Menschen gibt, die leiden und wegen ihres Leids unersetzlich sind.«
    »Aber wer nimmt das Leid der anderen auf sich, und wer ist von dieser Pflicht befreit?«
    »Niemand, Tochter, niemand.«
    Sie hatten die Stadt dem Tod ausgeliefert.
    Die Stadt war ein Barbarenlager.
    Es klopfte an der Tür.

 
XXIV. Zona Rosa: 1970
     
    Laura, die alles mit

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