Die Jahre mit Laura Diaz
verurteilt und zerstört wurden. Waren die Künstler lediglich ein paar Provokateure und die Kunstmäzene Feiglinge? Wie konnten diese Leute derart naiv sein, daß sie annahmen, Rivera, Orozco oder Siqueiros würden konventionelle, dekorative Werke nach dem Geschmack derer malen, die sie bezahlten? Die verblendeten, großzügigen und zugleich schäbigen Mediri der Gringos in New York, Detroit und Los Angeles glaubten vielleicht – das meinte Enedina –, wenn sie den Auftrag zu einem Kunstwerk gäben und es honorierten, genüge das, um dessen kritische Absicht aufzuheben, es unschädlich zu machen und, nachdem man es kastriert hatte, in das Kulturgut einer steuerfreien, puritanischen Wohltätigkeit aufzunehmen.
Der alte Gärtner dankte fürs Mitnehmen und stieg in Wilshire aus, wo er jemanden zu finden hoffte, der ihn nach Brentwood mitnahm. Enedina und ich wünschten ihm Glück.
»Wie ich gesagt habe«, verabschiedete sich der alte Mexikaner aus Ocotepec lächelnd von uns, »wenn Sie von einem Garten erfahren, der Pflege braucht, geben Sie mir Bescheid, ich kümmere mich gern darum. Haben Sie keinen eigenen Garten?«
Wir fuhren zur Olvera Street weiter.
Eine Zeitlang sahen wir uns das Fresko an, das Siqueiros auf die hohe Außenwand eines dreistöckigen Gebäudes gemalt hatte. Nach siebzig Jahren der Verblendung und des Schweigens hatte man das Werk restauriert. 1930 hatte eine reiche kalifornische Dame, die von der »Mexican Renaissance« gehört hatte, den Auftrag zu diesem Wandbild erteilt, und weil Rivera in Detroit und Orozco in Dartmouth beschäftigt waren, engagierte sie Siqueiros und fragte ihn, welches Thema das Werk haben würde.
»Das tropische Amerika«, antwortete ungerührt der Wandmaler mit der schwarzgelockten zerzausten Haarflut, den blitzend-grünen Augen, den gewaltigen Nasenflügeln und einer merkwürdig abgehackten Sprechweise, die mit zögernden Flickwörtern, mit »nun ja«, »das heißt« und »nicht wahr?« geradezu gespickt war.
Als die Mäzenin das hörte, erschien vor ihren Augen eine wunderbare Vision von Palmen und Sonnenuntergängen, von sich in den Hüften wiegenden Rumbatänzerinnen und schneidigen Charros, von roten Ziegeldächern und prächtigen Feigenkakteen. Sie unterschrieb den Scheck und erklärte ihr Einverständnis.
Am Tag der Einweihung war die alte Plaza mit Behördenvertretern und Persönlichkeiten der guten Gesellschaft gefüllt, man zog den Vorhang auf, der »Das Tropische Amerika« verhüllte, und sichtbar wurde das Wandgemälde eines Lateinamerikas, das von einem braunhäutigen, versklavten, gekreuzigten Christus verkörpert wurde. Ein gekreuzigtes, nacktes, mit dem Tode ringendes Lateinamerika hing am Kreuz, und über ihm schwebte der blutgierige Adler des nordamerikanischen Wappens.
Die Mäzenin fiel in Ohnmacht, die Behördenvertreter stimmten ein großes Zetergeschrei an, Siqueiros habe Los Angeles in die Hölle versetzt, und am Morgen des nächsten Tages war das Wandbild vollständig mit Kalk verschmiert, zugedeckt, zerstört, unsichtbar für die Welt, als wäre es nie dagewesen. Nothing. Nichts.
Daß wir es an diesem Nachmittag im ersten Jahr des neuen Jahrtausends restauriert an seinem Platz sahen, rührte Enedina tiefer als mich. Mein Mädchen mit den grünen Augen und der olivenfarbenen Haut hob die Arme und zog sich die langen Haare in den Nacken, rollte sie zu einem straffen Zopf zusammen, der ihre Erregung wie ein Blitzableiter entlud. Die Restaurierung des Werkes hatte auch sie, Enedina, wiederhergestellt, das hier war das Zeugnis, daß sie als Chicana eine vollwertige Person war, die sowohl zu Mexiko als auch zu den Vereinigten Staaten gehörte. Es gab nichts zu verbergen, nichts zu verheimlichen, dieses Land gehörte allen, allen Rassen, allen Sprachen, allen Geschichten. Das war sein Schicksal, weil es sein Ursprung war.
Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, das Wandbild zu fotografieren, und freute mich, daß endlich einmal ein Arbeitsauftrag mit einem persönlichen Projekt zusammenpaßte. Die Arbeit an meinem Buch war unterbrochen worden, als man mich in Detroit überfallen und zusammengeschlagen hatte. Ich war gerade aus dem Institute of Arts gekommen, wo ich das Wandbild Riveras über die Industrie fotografiert und das Gesicht einer Frau entdeckt hatte, die zu mir, meinem Blut, meiner Erinnerung gehörte: Laura Dïaz, die Großmutter meines in Tlatelolco ermordeten Vaters, die Mutter eines anderen Santiago, der seine Verheißung nicht
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