Die Jahre mit Laura Diaz
darum ist sie so wohltuend, die Wärme des heraufziehenden strahlenden Sonnentages enthält. Sie wollte sich jedoch nicht zu lange mit der nostalgischen Atmosphäre eines Ortes aufhalten, der sie so intensiv an ihre Jungmädchenzeit erinnerte, an ihre Spaziergänge auf der Mole, als sie ihren Bruder bei der Hand gefaßt hielt, an seinen Tod und sein Begräbnis in den Wellen.
Vielmehr genoß sie, nachdem sie im hochgelegenen Dachgeschoß des Hotels Impérial eingezogen war, die heimliche Herausforderung des Horizonts über dem Golf, wo selbst das hellste Tageslicht ein überraschendes Gewitter, den Nordwind, Regen und Sturm verbirgt. Und als sie am Abend zum Platz hinunterstieg, setzte sie sich allein an ein Tischchen unter den Arkaden, und sie fühlte sich in angenehmerer Gesellschaft als je zuvor, die Nacht auf dem Hauptplatz von Veracruz hatte sie immer große Wonne empfinden lassen, mitten im Trubel, im Menschengewühl, während die Kellner mit ihren Tabletts hin und her rannten, die mit Bier, Cuba libres, Mojito-Cocktails und dem Veracruzaner Mint-Julep mit seinem in den Rum getauchten Pfefferminz-Toupet vollbeladen waren.
Die Kapellen, die alle Musikstile des Landes vertraten, große Trommeln aus dem Norden, Mariachis aus dem Westen, Bolero-Trios aus der Hauptstadt, Jarana-Gitarren aus Yucatân, Marim-bas aus Chiapas und Veracruzaner Sones mit Harfe und Laute, sie alle wetteiferten in einer aufreizenden Kakophonie, Achtung und Ruhe wurden erst von der Tanzvorstellung vor dem Rathaus durchgesetzt, als der Danzön die angesehensten Paare herbeirief, um in jener Bewegung zu tanzen, die nur die Füße beansprucht und dem übrigen Körper einen unvergleichlichen erotischen Ernst aufzwingt, als ließe der minimale, vom Knie abwärts wirkende Rhythmus der vom Knie aufwärts wirkenden sinnlichen Anziehungskraft freien Lauf.
Hier hatte Maria de la O ihre letzten Tage vertanzt, als sie mit dem berühmten Matfas Matadamas verheiratet war, vermutlich einem ebenso kümmerlichen, kalten und – mit Haut und Haar, Jacke und Krawatte, Schuhen und Socken – gänzlich bläulichen Männchen wie dem, das jetzt Laura einlud, sich dem Takt der Hymne aller Danzones, dem »Nereidas«, anzuschließen; als es sah, daß sie allein war, forderte es sie auf, ohne ein Wort zu sagen, und sprach auch nicht, während es tanzte, sie aber fragte sich insgeheim während des Danzön, was habe ich verloren, was gewonnen? Habe ich nichts mehr zu verlieren? Wie messe ich die Wegstrecken meines Lebens? Nur mit den Stimmen, die aus der Vergangenheit aufsteigen und mich ansprechen, als wären sie hier? Muß ich dafür dankbar sein, daß niemand übrigbleibt, der mich beweinen kann? Muß es mir leid tun, daß ich niemanden mehr habe, den ich verlieren kann? Genügt allein die Tatsache, so etwas zu denken, um zu bestätigen, Laura Dîaz, du bist eine alte Frau? Was habe ich verloren? Was gewonnen?
Der kleine graublaue Alte brachte sie respektvoll zu ihrem Tisch zurück. Ihm tränte ein Auge, und er hatte nicht einmal gelächelt, doch während des Tanzes hatte er gezeigt, wie sehr er es verstand, den Körper der Frau mit seinem Blick, dem Rhythmus und der innigen Berührung ihrer Hand und ihrer Taille zu liebkosen. Mann und Frau. Der Danzön war der allersinnlichste Tanz, weil er die Ferne in Nähe verwandelte, ohne die Distanz aufzugeben.
Ob Laura den Danzön »Nereidas« noch einmal hören und tanzen würde, nach dieser Nacht, die ihrer Weiterfahrt auf der Straße nach Catemaco vorausging? Als sie das Hotel Impérial verließ, nahm sie ein Taxi, ließ es anhalten, sobald sie den See erreicht hatten, und stieg aus. Sie bat den Chauffeur, nach Veracruz zurückzukehren.
»Soll ich nicht auf Sie warten?«
»Danke. Das ist nicht nötig.«
»Und Ihre Koffer, Señora? Was soll ich den Leuten im Hotel sagen?«
»Die sollen sie für mich aufheben. Adiôs.«
Von weitem hatte sie wieder den Eindruck, als wäre das Haus in Catemaco anders, als verkleinerte die Entfernung alles, machte es aber auch länger und beengter. Abermals bedeutete die Rückkehr in die Vergangenheit, einen leeren und endlosen Gang zu betreten, in dem man nicht mehr die gewohnten Dinge und Menschen findet, die wir eigentlich wiedersehen möchten. Die Menschen und Dinge der Vergangenheit fordern uns heraus, als spielten sie mit unserer Erinnerung wie mit unserer Phantasie, sie fordern uns heraus, ihnen einen Platz in der Gegenwart zu geben, ohne zu vergessen, daß sie eine
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