Die Janus-Gleichung
Bücher anzusehen, die auf jeweils fünf Brettern auf jeder Seite des Ersatzfensters standen. Jedes Buch hatte noch seinen ursprünglichen Einband, und sie sahen alle sehr kostbar aus, vielleicht hundert Jahre alt oder noch älter. Es handelte sich nicht um Fachbücher, sondern ausschließlich um Romane und Biographien, und Essian verspürte erneut den Wunsch, der erst seit kurzem in ihm erwacht war, seinen Fachbüchern zu entfliehen und sich der Literatur zu widmen. »Deine Freundin im Westen«, fragte er, »bleibst du bei ihr in der Pension?«
»Er lebt in der Pension.« Jill setzte sich in eine Schaukel gegenüber dem Fenster und deutete auf den Platz neben sich; aber sie blickte nicht in sein unglückliches Gesicht, von dem er wußte, daß es seine Bestürzung widerspiegelte. Sie besuchte einen anderen Mann – einen anderen Mann. »Es schaukelt sich besser zu zweit«, sagte sie.
Er setzte sich neben sie, und dort, wo sein Arm den ihren berührte, fühlte er die Spannung.
»Komm schon«, sagte sie, als sie sich vom Boden abstieß; er machte es ihr nach, fühlte sich jedoch dumm und befangen wie ein Schuljunge. Die verschnörkelten Ketten, mit denen die Schaukel an der Decke befestigt war, begannen zu quietschen, und Jill lehnte sich mit einem behaglichen Grinsen zurück. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwierig es war, die Dinger zum Knarren zu kriegen. Ich mußte Eichenholz für die Verankerung auftreiben und Ketten, die keinen mono-molekularen Schutzüberzug haben…«
»Ich will nicht, daß du fährst«, sagte Essian.
»Was?« Sie hörte auf zu schaukeln und sah ihn an.
»Es tut mir leid«, murmelte er und wollte aufstehen, aber sie hielt ihn am Arm fest, und er setzte sich wieder. Der Stuhl knarrte noch ein letztes Mal, und dann war es bis auf das Rauschen des Meeres still im Zimmer.
»Wie soll ich dir das bloß erklären?« Essian versuchte ihren Gesichtsausdruck zu deuten. »Ich glaube, es geht tiefer als gestern. Wie ich dir schon der Bar sagte, habe ich dich seit Wochen ansprechen wollen, schon seitdem ich dich das erste Mal gesehen hatte. Aber es war mehr als nur das. Du faszinierst mich – so als ob es bereits eine Vorstellung von dir in meinem Gehirn gegeben hätte, die nur darauf wartete, Wirklichkeit zu werden.«
»Paul…«
»Ich hab’ von dir geträumt, hatte Phantasien. Und dann, nach gestern abend, fühlte ich mich einfach hervorragend. Das erste Mal seit Tagen, ja seit Monaten, fühlte ich mich wieder lebendig; hatte Lust zu arbeiten. Als ich heute morgen meinem Job nachging, habe ich die ganze Zeit an dich gedacht. Ich wußte, daß ich dich wiedersehen mußte, sofort.« Essian verstummte, erstaunt über sich selber. Nie in seinem Leben hatte er die Erfahrung gemacht, sich über seine Gefühle Rechenschaft abzulegen, indem er sie aussprach. Die Sprache sollte eine Folgeerscheinung der Gedanken und Gefühle sein; sie sollte den anderen bestimmte ausgewählte Bewußtseinsinhalte mitteilen. Aber er hatte soeben von sich selbst erfahren, daß er nicht mehr ohne Jill Selby leben wollte; er hatte es ausgesprochen, er hatte es gehört, und es war die Wahrheit. Die Heftigkeit dieses Ausbruchs, die Tatsache, daß es ihm eigentlich ohne seinen Willen über die Lippen gekommen war, ließ ihn erstaunt verstummen. Was war sie, daß sie das in ihm bewirkte?
»Ich bin ja nur ein paar Wochen fort«, sagte sie. »Und wir kennen uns doch erst einen Tag.«
Essian fühlte, wie sich eine Welle in seinem Magen überschlug und dann auf dem Strand ausrollte. »Es ist lächerlich, nicht wahr?«
»Nein.« Sie berührte leicht sein Knie; es war nur eine einfache Gebärde, aber er wußte, daß sie bedeutete: bitte sieh mich an. »Du sagst, du hast von mir geträumt, hättest Phantasien gehabt. Was waren das für Träume? Was für Phantasien?«
Er sah sie vor sich, wie sie nackt an seinen Füßen kniete, wie seine Hände langsam ihren Körper hinaufstrichen. Er wollte zur Seite blicken, hatte irgendwie das Gefühl, daß sie durch ihn hindurchsehen könnte. »Flüchtige Träume«, sagte er.
»Chaotisch. Vorstellungen von deinem Gesicht, und so. Manchmal waren sie etwas merkwürdig, allerdings immer schön und aufregend.«
Sie hatte sich ihm auf der Schaukel zugewandt. Ihre Lippen glänzten, als ob sie eben mit der Zunge darüber gefahren sei. Die Arme hatte sie ausgebreitet auf der Rückenlehne der Schaukel liegen, ihre Knie berührten ihn und schienen ihr Einverständnis zu signalisieren; vielleicht
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