Die Janus-Gleichung
Sonnenschirme befanden sich jetzt im Schatten, aber die Flügel der Windmühlen drehten sich bereits im leichten Abend wind. Was hatte Golding doch noch gesagt? Ernsthaft gestört.
Essian fühlte, wie Panik in ihm aufstieg. Eine unerklärliche Furcht vor dem, was in seinem Innern entfesselt werden könnte. Sein Leben lang hatte immer ein Ausgleich in ihm stattgefunden, war er von seinem Intellekt im Gleichgewicht gehalten worden, von der fast ununterbrochenen Arbeit seines Verstandes, der sich mit den verzwickten, aber lösbaren Problemen der Logik und Mathematik befaßte. In den Augenblicken, in denen ihn die Angst übermannte, wußte er, was er sonst zu unterdrücken imstande war: daß er an der Janus-Gleichung scheitern würde, wenn es ihm nicht gelang, sein inneres Gleichgewicht wiederherzustellen. Er wußte, daß ein Psychologe seiner Einsicht sicherlich Beifall gespendet hätte, aber er war nun einmal kein besonders psychologisch geschulter Mann, und so wußte er auch nicht, wie er den Gedanken in die Tat umsetzen sollte. Er hatte sein seelisches Gleichgewicht immer durch die Arbeit aufrechterhalten: durch Denken. Seine Intuition betraf sehr viel häufiger seine Arbeit als ihn selber. Es war verrückt! Er konnte nicht arbeiten, bis er nicht seine alte Ausgeglichenheit wiedergefunden hatte; aber Arbeit war der einzige Weg, den er kannte, um sie zu erlangen.
Heute hatte er in Goldings Büro etwas getan, was noch vor einem Jahr undenkbar gewesen wäre, und es hatte ihm nicht geholfen. Er konnte den Dämon, den er in sich fühlte, weder ausleben noch ihn in seinem Innern einsperren. Während Essian noch aus dem Fenster starrte, begann die Beklemmung zu schwinden und fiel dann ganz von ihm ab. Er mußte einfach mal ausspannen, mußte verdammt nochmal ausspannen. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er sich sofort zu Winters Apartment begeben oder vorher noch an die Bar gehen sollte. Zehn Minuten später ließ er sich an der Marmor- und Onyxbar des »Styx« nieder, ohne sich bewußt an die lautlos dahinrollenden Laufbänder und Fahrstühle zu erinnern. Der Barkeeper kam zu ihm hinüber und setzte den kleinen Plastikkegel eines Inhaliergerätes vor ihn hin.
»Das übliche, Doc?«
Essian nickte. Der Barkeeper stöpselte das eine Ende des Schlauches hinter der Bar ein, und rosa Dampf strömte in die Maske. Essian schob unter der hohlen Hand einen Zehner über die Theke. Der Keeper bedankte sich kopfnickend, zögerte dann. Essian sah, wie er ihm mit den Augen bedeutete, zur Seite zu schauen, während sich auf seinem Gesicht ein verschwörerischer Ausdruck breitmachte. Als Essian sich umwandte, sah er die schwarzhaarige Frau, die auf den Hocker, zwei Plätze weiter unten, zusteuerte. Heute trug sie ein knappes schwarzes Oberteil und einen Rock, der vorne und hinten aus einem fast bodenlangen Streifen Stoff bestand und in der Taille auf jeder Seite von einem feinen Goldkettchen zusammengehalten wurde. Als sie sich hinsetzte, glitt das Vorderteil des Rockes zwischen ihre wohlgeformten Beine und flatterte in kleinen Wirbeln, die von der Klimaanlage in der Bar erzeugt wurden, gegen das Unterteil des Stuhles. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, und Essian glaubte, sie nicken gesehen zu haben; plötzlich spürte er sein Herz schmerzhaft schlagen, und ein Blutstrom schoß ihm ins Gesicht. Der Barkeeper blinzelte ihm zu, was sein Unbehagen etwas dämpfte, und begab sich ans andere Ende der Bar. Essian preßte den Inhalator gegen das Gesicht, atmete den kühlen Nebel ein, der feucht nach Minze schmeckte, und sagte sich, daß zwei Wochen eine zu lange Zeit waren, wenn man mit einer Frau reden wollte und es nicht tat. Die rosa Nebel taten ein übriges; er wandte sich ihr genau in dem Augenblick zu, als ein großer Mann mit einem blonden Lockenkopf zwischen ihm und der Frau Platz nahm und ganz zwanglos mit ihr zu reden begann.
Essian setzte seinen Trichter auf der Theke ab, stand auf und ging hinaus, ohne auch nur einen Blick auf den Mann, die Frau oder den rosa Nebelfaden, der zur Decke aufstieg, zu werfen.
Das »Styx« befand sich im untersten Bereich eines Vergnügungskomplexes, der sich über fünfzehn Stockwerke hinweg spiralförmig um den gigantischen Käfig eines Vogelhauses gliederte. Die keilförmigen schmalen Läden, Theater, Arkaden und anderen Gebäude hatten auf der Seite zum Vogelkäfig hin alle einen terrassenartigen, überdachten Vorraum. In diesem inneren Zirkel strömten die vergnügungs-suchenden Bewohner
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