Die Joghurt-Luege
»Unzulänglichkeiten […] bei der obligatorischen und der freiwilligen Etikettierung« fest und bemängelte die hohe Zahl verloren gegangener Ohrmarken. Es steht nicht gut um die Verlässlichkeit herkömmlicher Rückverfolgungssysteme, die sich auf Papierdokumentationen und manuelle Eingaben stützen, denn wer kann schon beurteilen, ob es sich bei einem entdeckten Fehler um ein Versehen oder Absicht handelt. Dabei ist eine gesicherte Herkunft auch Jahre nach der letzten BSE-Krise eines der Hauptentscheidungskriterien für den Rindfleischkauf. Die Beispiele zeigen: Alle Vorsorgemaßnahmen nutzen nichts, wenn sie nicht konsequent ausgeführt werden.
Wie weit Theorie und Praxis in der Seuchenbekämpfung auseinander klaffen, machen Verstöße besonders deutlich. In der heißesten Phase der BSE-Krise wurden, an Recht und Gesetz vorbei, mehrere Tausend Tonnen britisches Rindfleisch nach Europa importiert. Publik geworden ist 1997 der Fall eines Hamburger Fleischhändlers, der zumindest über ein halbes Jahr lang trotz Embargo 616 Tonnen Rindfleisch aus Großbritannien nach Deutschland eingeführt und zum Teil weiterverkauft hatte. 4 Tonnen davon wurden zu etwa 11 000 Labskauskonserven verarbeitet, von denen ein Teil in Mecklenburg-Vorpommern von den Behörden beschlagnahmt wurde; rund 400 Kilogramm wurden in Frankfurter Gaststätten verzehrt, 10 Tonnen in Nordrhein-Westfalen zu Wurst verarbeitet, weitere rund 39 Tonnen waren für den Handel in Coburg und Kulmbach bestimmt. Den mit 440 Tonnen größten Teil wollte der Fleischhändler nach Osteuropa exportieren. Weil die EU Rindfleischexporte |204| aus ihren Mitgliedsstaaten in Drittländer kräftig mit Subventionen unterstützt, hätte dem Händler ein lukratives Geschäft gewinkt. Er hätte das britische Fleisch vor dem Export nur umdeklarieren müssen.
Noch augenscheinlicher wird die Brisanz beim Thema Tiermehl. Zwar hatte Deutschland bereits 1989 die Einfuhr von britischem Tiermehl verboten – trotzdem wurden bis 1995 jährlich bis zu 100 Tonnen importiert. Die Zeitschrift nature bezifferte die nach Europa gelieferte Gesamtmenge des riskanten Materials gar auf 70 000 Tonnen zwischen 1988 und 1990. Und die offizielle britische Handelsstatistik weist allein für 1995 den Export von 22,7 Tonnen »feiner und grober Mehle und Pellets von Fleisch und Fleischschlachtabfällen und Fettgrieben« nach Deutschland aus. Nach dem ausufernden Rinderwahnsinn hatte London zwar im eigenen Land Tiermehl im Futter für Wiederkäuer verboten, aber der Tiermehlexport war von 13 228 Tonnen auf 32 220 Tonnen in die Höhe geschnellt. 19 1997 kommentierte der damalige Stellvertretende Vorsitzende des Agrarausschusses im Europaparlament, Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf, nachdem er sich vor Ort ein Bild gemacht hatte: »Die Grenzkontrollen in Großbritannien zum Embargo sind ein Witz.« Wenige Monate später befasste sich auch eine offizielle Kommission mit dem BSE-Desaster. Sie beschrieb in 16 Bänden, wie Politiker und Beamte kritische Wissenschaftler unter Druck setzten, Warnungen ignorierten und Gefahren schönredeten. 20
Tiermehl verschwindet – Rindfleisch taucht auf: Verbrauchervereinigungen und Behörden stoßen immer wieder auf Betrügereien. So hatte die Nichtregierungsorganisation foodwatch, die sich dem Schutz des Konsumenten verschrieben hat, trotz intensiver Nachforschungen den Verbleib von mehr als 124 000 Tonnen Tiermehl für das Jahr 2003 nicht klären können. 21 Weil nur die Schlachthöfe und die Entsorgungsbetriebe wissen, wie viele tierische Abfälle wirklich anfallen, sind auch die offiziellen Stellen ahnungslos. Foodwatch hält sogar »eine Umdeklarierung von Schlachtabfällen zu Rohstoffen der Lebensmittelindustrie auch in größerem Maße« für vorstellbar. Durchaus realistisch erscheint die Annahme, das |205| Tiermehl könnte unerlaubterweise Futtermitteln beigemischt worden sein. Immerhin gehören von den 2,5 Millionen Tonnen an Schlachtabfällen, die Jahr für Jahr anfallen, rund 1 Million zur Kategorie 3. Obwohl weniger riskant als die Kategorien 1 und 2, dürfen auch sie nicht in die Nahrungskette gelangen. Nur: Sie werden als Tiermehldünger, Kleintierfutter und technische Fette frei gehandelt – bieten also viel Spielraum für kriminelle Kreativität und skrupellose Geschäftemacher. Griebenmehle beispielsweise, wie sie beim Ausschmelzen von Fetten entstehen, kommen in vielen Convenience-Gerichten vor. Sie geben der Kruste von Schweinebraten oder dem
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