Die Judas-Papiere
Mortimers Besuch bei ihm gesprochen ha ben«, vermutete Harriet. »Allein das genaue Zuschlagen der Granit blöcke für die vielen Fenster wird reichlich Zeit gekostet haben.«
»Das wäre eine Erklärung«, sagte Horatio. »Aber das hilft uns natür lich auch nicht weiter. Denn jetzt scheinen ja alle Schlupflöcher aus bruchsicher verstopft zu sein.« Er lachte trocken auf. »Und dabei ha be ich gedacht, es gibt für mich kein Gefängnis, aus dem ich nicht ei nen Fluchtweg finde! Wie sich der Mensch doch irren kann!«
Byron nickte düster. »Immer geschieht das Unerwartete, wie Benja min Disraeli einmal treffend zu den Irrungen und Wirrungen des Le bens bemerkt hat.«
Durchgefroren bis auf die Knochen und tief beunruhigt, wie es nun weitergehen sollte, kehrten sie schließlich nach oben zurück. Sie wärmten sich im Rittersaal auf und nahmen sogar etwas zu sich. Dann verbrachten sie weitere Stunden damit, sich davon zu überzeu gen, dass es wirklich keine Möglichkeit gab, aus dem viereckigen Wohnturm zu entkommen und hinüber in den Innenhof zu gelan gen.
Es war so, wie van Helsing gesagt hatte. Alle Fensteröffnungen waren in ihrer ganzen Tiefe von passgenau zugeschlagenen Granitquadern verschlossen und keine der mächtigen Bohlentüren aus eisenhartem Holz, die zudem noch mit breiten Eisenbändern beschlagen waren, ließ sich öffnen. Da halfen auch nicht das Brecheisen und die Axt mit der breiten, sichelförmigen Klinge, die van Helsing in seiner Arzttasche hatte. Alles, was sie damit erreichten, waren vom Eisen stiebende Funken und winzige Splitter, die sie zwischen den Eisen beschlägen aus den gehärteten Bohlen hieben. Die Axt würde längst stumpf und unbrauchbar sein, bevor sie auch nur ein kopfgroßes Loch aus einem der Tore geschlagen hätten, geschweige denn ein genügend großes Loch, durch das sich einer von ihnen zwängen konnte.
Anschließend unterzogen sie alle oberen Räume einer gründlichen Untersuchung. Dabei drangen sie auch in das Gastzimmer der bei den Amerikanerinnen ein. Sie fanden es verlassen vor, was keinen von ihnen überraschte. Doch die Blutflecke auf dem Betttuch unter mauerten noch einmal das, was Byron ihnen in der Nacht über Dra culas Besuch bei den beiden Frauen geschildert hatte.
»Wenn es doch bloß eine Möglichkeit gäbe, zu diesem anderen Turm hinüberzukommen, an dessen Mauer Sie Dracula hochsteigen sahen, Miss Chamberlain-Bourke«, sagte van Helsing bedrückt. »Denn irgendwo tief unter dem Turm wird er tagsüber in einer Gruft liegen, die auch nur von dort zugänglich sein dürfte. Aber keines der Fenster hier liegt auch nur halbwegs hoch genug, als dass man die Zinnen erreichen, hinüberbalancieren und in den Turm steigen könnte.«
Byron und Horatio überzeugten sich mit einem Blick aus dem Fenster davon, dass es wirklich ausgeschlossen war, auf die Mauerkrone zu kommen und hinüber zum anderen Turm zu gelangen. Man hätte ein langes Seil von mindestens vier-bis fünffacher Manneslänge und mit einem Wurfanker an einem Ende haben müssen, um die Zinnen zu erreichen. Und von der steinernen Stiege hinauf zur Dachkrone ihres Wohnturmes, die einmal existiert hatte, fand sich nur noch ein Stück vom unteren Treppenabsatz. Alles andere war herausgeschlagen worden. Die Dachluke hoch oben an der Decke war für sie ebenso unerreichbar wie die Mauerkrone. Zudem war sie mit dicken, sich kreuzenden Streifen aus Eisenblech versiegelt, die sichtlich neueren Datums waren und damit wohl aus der Zeit stammten, als Mortimer hier zu Gast gewesen war.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Harriet ratlos, als die Dämme rung wie eine dunkle Flut über die Berge wogte. »Gleich erlischt das letzte Tageslicht und dann steigt Dracula aus seinem verfluchten Grab!«
14
W ir dürfen uns nichts anmerken lassen, was ihn misstrauisch ma chen könnte, und müssen so tun, als wüssten wir nichts von seinem wahren Wesen!«, schärfte van Helsing ihnen ein. »Das bringt uns ei nen Aufschub. Vielleicht meint es der morgige Tag besser mit uns als der vergangene.«
»Ein nicht gerade hoffnungsvoll stimmender Trost«, meinte Alis tair.
»Es ist der einzige Trost, den wir haben«, erwiderte Byron.
Van Helsing nickte. »Solange wir unsere geweihten Kreuze bei uns tragen, wird Dracula sich keinem von uns zu nähern wagen!«
»Aber der verfluchte Hund kann uns aushungern und verdursten lassen!«, knurrte Alistair mit finsterer Miene. »Und Zeit genug hat so ein Un-Toter ja.«
»Gewiss«,
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