Die Judas-Papiere
Burg Borgo nahe des gleichnamigen Gebirgspasses. Aber lassen Sie mich bitte der Reihe nach erzählen. Denn die Zusammenhänge sind zu kompliziert, um das Pferd vom Schwanz her aufzuzäumen«, bat van Helsing. »Auf der Burg Borgo wurde Jonathan Harker nach Abwicklung des Kaufvertrages Opfer des Vampirs, doch ihm war das seltene Glück vergönnt, mit dem Le ben davonzukommen und nicht selbst zum Vampir zu werden. Er kehrte nach geraumer Zeit nach England zurück. Und nach England gelangte auch Dracula, und zwar an Bord eines Seglers namens De meter . Er hatte sich in einem Sarg und mit Kisten voller Heimaterde mit diesem Handelsschiff transportieren lassen. Während der Über fahrt wurde ein Besatzungsmitglied nach dem anderen sein Opfer. Das Totenschiff zerschellte schließlich in einer stürmischen Nacht vor Englands Küste. Dracula konnte das jedoch nichts anhaben. Er rettete sich, verlässt als Wolf das Schiff und schon bald trieb er in London und Umgebung sein teuflisches Unwesen. In dieser Zeit ereignete sich so manch grausiges und tragisches Geschehen, auf das ich jetzt nicht näher eingehen möchte, wie ich auch andere Teile der vorausgehenden Geschichte ausgelassen habe. Auch erlaube ich mir, im Weiteren eine ganze Reihe von Personen unerwähnt zu lassen, die damals eine wichtige Rolle gespielt haben, um Dracula auf die Spur zu kommen und seinem blutrünstigen Treiben Einhalt zu gebieten. Eine dieser mutigen Personen war mein Onkel Cornelius van Helsing, den man aus Amsterdam nach London gerufen hatte und um Rat und Beistand bat. Mit seinem Wissen und seiner furchtlosen Tatkraft gelang es dieser kleinen Gruppe, zu der auch Jonathan Harker zählte, Dracula schließlich zu stellen und zu töten – und zwar auf die einzige Art und Weise, wie man einen derartigen Un-Toten für immer aus der Welt und in die Hölle verbannen kann. Wäre es dabei geblieben, wäre ich heute nicht hier. Aber wie das Schicksal es wollte, unternahm mein Onkel danach noch zwei Reisen zur Burg Borgo, einmal mit Jonathan Harker sowie dessen Frau und Kind und ein zweites Mal allein kurz vor seinem Tod. Und auf dieser Reise stieß er in Siebenbürgen am Fuß der Berge in einem Laden voller Trödel auf einen Stoß alter Stammbücher, Papiere und obskurer Schriften. Darunter befanden sich auch ein Stammbuch der Dracula-Grafen sowie die dünne Historie dieser Familie aus der Feder eines örtlichen Historikers, die dieser im Selbstdruck und nur in einigen wenigen Exemplaren verlegt hatte. Und dieser Familiengeschichte, die er auch im Stammbuch bestätigt fand, entnahm er, dass jener Dracula von der Burg Borgo noch einen Zwillingsbruder besaß, der nur wenige Minuten nach ihm zur Welt gekommen war, dass dieser einen nicht weniger schaurigen Ruf genoss und sich nach einem heftigen Zerwürfnis mit seinem Bruder sein eigenes Reich auf Burg Negoi geschaffen hatte. Und zwar nur wenige Jahre vor jenem Tag, an dem Jonathan Harker nach Borgo kam. Ich denke, Sie können sich vorstellen, wie entsetzt mein Onkel war, als er davon Kenntnis erhielt.« Wieder zwang ihn ein heftiger Hustenanfall zu einer Unterbrechung seines Berichtes. Und jetzt verbarg er nicht mehr vor ihnen, dass er blutiges Lungengewebe spuckte.
»Schwindsucht?«, fragte Byron leise, obwohl er die Antwort schon kannte.
Van Helsing nickte knapp. »Ja, im letzten Stadium«, sagte er und fuhr dann rasch fort: »Mein Onkel wusste, dass er nicht mehr in der Lage sein würde, auch noch den Zwillingsbruder zu stellen und zu töten. Auf seinem Sterbebett vertraute er mir sein Wissen an und übergab mir zahlreiche Aufzeichnungen aus der Zeit seiner Jagd auf den Borgo-Dracula. Und er nahm mir das Versprechen ab, nicht eher zu ruhen, als bis ich den zweiten Dracula-Vampir zur Strecke gebracht hätte.« Ein schwaches Lächeln huschte über sein eingefallenes Gesicht. »Nun, ich hatte anderes mit meinem Leben vor, als mich auf solch ein gefährliches Unterfangen einzulassen, war ich damals doch gerade jung verheiratet und stolzer Vater eines eigenen Sohnes. Aber das Schicksal hatte andere Pläne mit mir. Ich erkrankte an der Schwindsucht, wie Sie richtig bemerkt haben, Mister Bourke. Und als Mediziner wurde mir bald klar, dass mein Leben sich unauf haltsam seinem Ende zuneigt. Und da fasste ich den Entschluss, meinem frühen Tod noch einen Sinn zu geben und nun endlich auszuführen, was ich meinem Onkel versprochen hatte. Ich spekulierte darauf, dass der Vampir auf Burg Negoi geneigt sein würde, es
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