Die Judas-Papiere
Horatio hart. »Denn mit Ihrer idiotisch riskanten Spiegelprobe haben Sie vermutlich unser aller Le ben verspielt!«
»Lassen Sie es gut sein, Horatio. Er weiß selbst, was er angerichtet hat. Wir alle machen mal Fehler«, griff Byron besänftigend ein, ob wohl auch er innerlich eine Stinkwut auf Alistair hatte. Aber in ihrer katastrophalen Lage konnten sie es sich nicht erlauben, sich auch noch untereinander zu zerstreiten. Damit würden sie Dracula nur in die Hände spielen. »Was geschehen ist, lässt sich nicht mehr ändern. Deshalb sollten wir all unsere Aufmerksamkeit auf das richten, was wir jetzt noch tun können.«
»Das wird nicht viel sein«, brummte Horatio.
»Einiges aber schon«, widersprach Harriet. »Nämlich sofort alles Essbare und Trinkbare zusammentragen, was wir hier nur finden können, und nach oben in Sicherheit bringen. Denn ich glaube nicht, dass wir morgen wieder einen gedeckten Tisch vorfinden werden.«
Van Helsing hatte sich nach Draculas Rückzug mehrmals bei Byron dafür entschuldigt, dass er nicht schnell genug den Knoten des klei nen Lederbeutels hatte öffnen können, in dem er die kleine Metall-dose mit mehreren geweihten Hostien aufbewahrte. Wobei er nach drücklich betont hatte, dafür einen kirchlichen Dispens erhalten zu haben.
»Sofern wir den Morgen überhaupt erleben!«, knurrte Horatio und warf Alistair einen wütenden Blick zu.
Alles, was sich auf der gottlob üppigen Tafel fand und Hunger so wie Durst stillen konnte, trugen sie zusammen. Die feste Nahrung schlug Byron kurzerhand in das Tischtuch ein, Weinflaschen und Wasserkrug nahmen van Helsing und Horatio an sich.
Van Helsing schlug vor, sich die Nacht über in seinen beiden Räu men zu verschanzen, weil sie mehr Platz boten als die anderen Schlafzimmer, die über keinen kleinen Nebensalon verfügten. Und so beschlossen sie es auch.
Eiligst rafften sie ihre Sachen zusammen und kehrten zu van Hel sing zurück. Zu ihrem Schutz legten sie dann ihre Knoblauchgebinde und Kruzifixe auf die Türschwelle sowie auf die beiden Fensterbän ke. Der Arzt versicherte ihnen, dass Dracula nun nicht versuchen würde, bei ihnen einzudringen.
»Warum sollte er auch?«, sagte Horatio und ging im Zimmer rastlos auf und ab. »Ein Vampir hat doch alle Zeit der Welt, um uns hier oben weichzukochen, zumal er sich ja mit dem Blut der beiden armen Amerikanerinnen stärken kann, die er offenbar in seinen Turm ge bracht hat. Jedenfalls wird er länger durchhalten können als wir, das steht ja wohl fest.«
Niemand wusste darauf etwas zu erwidern, was einen Funken Zu versicht in ihnen hätte entzünden können. Zwar setzte van Helsing kurz zu einer Erwiderung an, schüttelte dann jedoch den Kopf und hustete blutigen Schleim in sein Taschentuch.
Hoffnungslosigkeit machte sich bei ihnen breit. Stumm saßen sie am Tisch oder gingen wie eingesperrte Tiere in den Zimmern hin und her.
Als Byron in der Nacht einmal aus dem Fenster blickte, sah er im Mondlicht eine große Fledermaus aus einer der Öffnungen des benachbarten Turms aufsteigen. Sie flog mit gleichmäßigem Flügelschlag und auf schnurgeradem Kurs nach Süden, als strebte sie ei nem eindeutigen Ziel entgegen. Was für eine Fledermaus ungewöhnlich war, bewegten sich diese Nachtschwärmer seines Wissens doch stets in einem wirren, flatternden Flug durch die Lüfte, jedoch niemals so geradlinig und zielstrebig wie dieses Flugwesen. Er ahnte, was er da sah, und teilte es seinen Schicksalsgefährten mit. Aber dass Dracula zu einem nächtlichen Flug aufgebrochen war, spendete keinen Trost. Es bewies vielmehr, dass der Vampir sich keine Sorgen machte, sie könnten ihm entkommen.
Als endlich der Tag heraufdämmerte, der neuen Schneefall brach te, hob das ihre Stimmung und Zuversicht nur unwesentlich. Was be deuteten schon Tage und Wochen, ja Monate und Jahre in der Exis tenz eines Un-Toten!
Byron weigerte sich jedoch, seinem Schicksal fatalistisch entge genzudämmern und untätig darauf zu warten, dass die Stunde ihrer Kapitulation gekommen war. Deshalb bestand er darauf, die Suche nach dem Buch in der Bibliothek fortzusetzen.
»Was hat das denn noch für einen Sinn?«, fragte Alistair mutlos. »Selbst wenn wir das gesuchte Buch finden, was können wir dann noch damit anfangen?«
»Es gibt uns etwas zu tun, Alistair!«, erwiderte Byron energisch. »Al so lassen Sie uns an die Arbeit gehen! Und wenn es Ihnen lieber ist, gemeinsam zu versuchen, eines der Tore oder Fenster aufzubre chen,
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