Die Judas-Papiere
bin ich gern dazu bereit. Denn irgendetwas müssen wir tun, wenn wir nicht den Verstand verlieren wollen!«
»Byron hat recht«, sagte Harriet. »Alles ist besser, als hier herumzu sitzen und zu warten, dass unser Ende kommt.«
Das fand auch van Helsings und Horatios Zustimmung, während Alistair nur die Achseln zuckte, sich ihnen jedoch wortlos anschloss.
Wie am Tag zuvor gaben sie die Versuche, ein Tor oder ein Fenster aufzubrechen, schon bald wieder auf. Sie vergeudeten damit nur un nötig ihre Kräfte. Und so begaben sie sich schließlich in die Bibliothek, um sich dort mit der Suche nach dem Buch von ihren düsteren Gedanken abzulenken, so gut es eben möglich war. Doch niemand war wirklich bei der Sache. Denn Alistair hatte natürlich recht gehabt, als er den Sinn dieser Suche infrage gestellt hatte.
Am Nachmittag kehrten sie nach oben in den Turm zurück. Zwar verspürte keiner von ihnen das Verlangen, von dem kalten Braten und den anderen Essensresten etwas zu sich zu nehmen. Aber Durst machte sich bei ihnen bemerkbar.
Sie teilten sich eine Flasche Wein, den sie reichlich mit Wasser ver dünnten. Zum Glück hatte Bogan am Abend zuvor noch einmal die Wasserkrüge auf den Waschkommoden in ihren Zimmern aufgefüllt, sodass ihr Vorrat bei sparsamem Umgang für einige Tage ausreichen sollte.
Harriet hatte sich mit ihrem Glas ans Fenster gestellt und blickte hinaus. Der Schneefall hatte viel von seiner Kraft verloren, dafür war böiger Wind aufgekommen, der die Schneeflocken mit launischer Lust mal hierhin, mal dorthin trieb.
Plötzlich stellte sie das Glas so abrupt auf der Fensterbank ab, dass der Fuß zersplitterte. Sie beachtete es jedoch gar nicht, sondern riss das Fenster auf, schleuderte das zerbrochene Glas in den Abgrund und beugte sich gefährlich weit hinaus.
»Harriet, was soll das?«, rief Byron besorgt und sprang auf.
Harriet fuhr zu ihnen herum. »Ich weiß, wie wir aus dem Gefängnis ausbrechen können!«, stieß sie aufgeregt hervor. »Denn es gibt sehr wohl eine Möglichkeit, um hinüber zu Draculas Turm zu kommen!«
»Wahrscheinlich, indem man sich in eine Fledermaus verwan delt?«, kam es mit freudlosem Spott von Alistair.
»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Harriet fast fröhlich und mit blitzenden Augen, die ihre neu erwachte Hoffnung widerspiegelten.
»Man braucht dazu nur ein sicheres Balancegefühl in großer Höhe und das habe ich weiß Gott! Denn unter dem Fenster und über die ganze Länge der Mauer zieht sich ein kleiner Zierfries entlang, bis unter die Fenster von Draculas Turm und noch weiter darüber hi naus.«
Als Byron sich hinauslehnte und sich von ihr den Fries zeigen ließ, machte er ein ungläubiges Gesicht und erschrak im nächsten Mo ment bei dem Gedanken, dass sie sich dort hinaufwagen wollte. Es erschien ihm geradezu selbstmörderisch.
»Unmöglich, Harriet!«, stieß er hervor. »Dieser Fries ist doch bes tenfalls zwei Fingerstärken breit! Auf so einer schmalen Kante kön nen Sie unmöglich die Balance halten, schon gar nicht bei diesem böigen Wind!«
»Sie scheinen vergessen zu haben, dass ich nicht nur mit Wurfmes sern umzugehen weiß, sondern auch von Kindesbeinen an Seilakro batin bin«, erwiderte Harriet. »Es wird schwer, keine Frage, aber es ist zu schaffen.«
Horatio, der sich zwischen sie gedrängt und ebenfalls einen Blick auf den Fries geworfen hatte, sagte mahnend: »Entschuldigen Sie, Harriet, aber Ihnen scheint der Wein zu Kopf gestiegen zu sein! By ron hat recht, was Sie da versuchen wollen, ist der sichere Sturz in die Tiefe! Am besten, Sie vergessen es schnell wieder!«
»Ich denke gar nicht daran!«, erwiderte Harriet wild entschlossen. »Wir können es uns nicht erlauben, unsere einzige Chance nicht zu nutzen! Oder hat einer von Ihnen einen besseren Vorschlag, wie wir aus unserem Gefängnis ausbrechen können?«
Die Männer schwiegen betreten.
Dann sagte van Helsing zu Harriet: »Auch ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie auf dem schmalen Vorsprung die Balance halten wollen. Aber wenn Sie Akrobatin sind, wie Sie gesagt haben, und sich dieses halsbrecherische Wagnis zutrauen, dann müssen Sie es in Gottes Namen versuchen!«
»Und genau das werde ich auch tun!«, versicherte Harriet, warf ihre warme Kostümjacke ab und bückte sich, um die Schnürsenkel ihrer Stiefeletten zu öffnen. Als sie ihre Schuhe ausgezogen hatte, raffte sie ohne schamhafte Verlegenheit ihren langen Rock und löste die Strümpfe von den Bändern ihres
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