Die Judas-Papiere
Pferde durch die verschneiten Berge und hinab in die Ebene der Walachei.
Halb erfroren erreichten sie die kleine Stadt an der Arges eine gute Stunde nach Mitternacht. Die Schlagläden des Gasthofes Goldene Krone waren schon zugesperrt und nirgendwo zeigte sich im Haus ein einziger Lichtschein. Die Wirtsleute waren längst zu Bett gegan gen. Aber darauf konnten sie in der bitteren Kälte keine Rücksicht nehmen. Deshalb hämmerten sie so lange an die Tür, bis sie die grol lende und fluchende Stimme des Wirtes hörten und ihnen endlich geöffnet wurde.
Der wütende Wortschwall des Mannes brach jäh ab, als er sah, wer es war, der ihn zu so später Nachtstunde aus seinem warmen Bett holte. Fassungslos starrte er sie an, als glaubte er, Gespenster zu se hen oder ein Wunder zu erleben. Dann schlug er das Kreuz, gab schnell die Tür frei und ließ sie herein.
Wenig später brannten im Schankraum des Gasthofes Leuchten und im Kamin loderte ein Feuer, vor dem sich Harriet und die Män ner unter vielerlei wohligem Seufzen aufwärmten, bevor sie sich an einen Tisch setzten.
Mittlerweile hatte sich auch die Wirtsfrau unten bei ihnen einge funden. Sie strahlte, als sie die Engländer wiedererkannte, schlug das Kreuz und rief auf Deutsch: »Der Allmächtige sei gepriesen! Ihr seid wohlbehalten von der Burg des Teufels zurück!«
»Ja, auch dank Eurer hilfreichen Geschenke, gute Frau«, sagte Byron. »Und jenen Graf Kovat oder Dracula, wie er sich zu nennen vorzog, braucht Ihr nicht länger zu fürchten. Ihn hat die Hölle verschlungen!«
»Seid Ihr Euch dessen auch gewiss?«, fragte sie, sichtlich zwischen Zweifel und Freude hin- und hergerissen.
»Es ist so wahr, wie wir hier vor Euch sitzen«, versicherte Byron mit ernstem Nachdruck. »Das schwöre ich beim Kreuz unseres Erlösers und bei allen Heiligen!«
Ihr rundliches Gesicht leuchtete nun auf. »Der Herr segne Euch und möge Dracula auf ewig im Fegefeuer brennen! Doch nun lasst uns für Euch sorgen!«
»Wartet!«, hielt Byron sie zurück. »Bringt auch unserem Kutscher Bogan eine kräftige Stärkung, wenn er die Tiere abgerieben hat und aus dem Stall kommt. Ohne ihn hätten wir den Weg nicht aus den Bergen gefunden und wären in der Kälte erfroren. Der arme, verun staltete Mann ist nur ein Werkzeug dieser Bestie gewesen. Von ihm ist nichts befürchten, dessen haben wir uns vergewissert. Erklärt ihm in Eurer Sprache, dass die Pferde und der Schlitten nun ihm gehören und er damit machen kann, was er will. Vielleicht ermöglicht ihm der Besitz ein anderes, besseres Leben, als er es bisher gekannt hat.«
Die Wirtsfrau sah ihn erst verblüfft an, versicherte dann jedoch, dem Buckligen alles so auszurichten, wie er es ihr aufgetragen hatte, und beeilte sich, um ihnen wenig später stark gewürzten Glühwein und eine große Platte mit Brot, Käse und kaltem Fleisch zu bringen.
Sie alle brannten darauf zu erfahren, welcher Hinweis sich hinter den rätselhaften Symbolen verbarg, die Mortimer auf der Rückseite der Grabplatte zurückgelassen hatte. Und so zog Byron schließlich sein Notizbuch hervor und zeigte Harriet und Alistair, was Mortimer in die Abdeckung des Sarkophags geritzt hatte.
»Ich jedenfalls kann damit nichts anfangen«, sagte Alistair. »Das sieht mir nach den bedeutungslosen Kritzeleien eines Kindes aus. Was mich auch nicht verwundert. Denn Mortimer muss wirklich den Verstand verloren haben, als er ausgerechnet die Burg dieses wider lichen Vampirs dazu auserkoren hat, um dort seinen Hinweis auf das Versteck des Judas-Evangeliums zu hinterlassen.«
Harriet pflichtete ihm bei. »Mir ist noch immer rätselhaft, wie er dort in die Gruft gelangt und dann mit seinem Leben davongekom men ist.«
»Eine Erklärung dafür wird es wohl geben«, meinte Horatio. »Aber die hätte uns nur Dracula geben können. Sich also darüber noch wei ter den Kopf zu zerbrechen, ist sinnlos. Seien wir froh, dass wir den Hinweis gefunden und überlebt haben. Wichtig ist jetzt allein, die ses Rätsel zu lösen.« Damit wandte er sich Byron zu. »Hast du denn schon ungefähr eine Ahnung, was wir da vor uns haben? Sind es Strichmännchen oder ist es eine verschlüsselte Botschaft?«
Dass seine Gefährten das förmliche »Sie« ein für alle Mal fallen gelas sen hatten und zum »Du« übergegangen waren, fand Byron nur selbst verständlich. Nach dem, was sie auf der Burg durchgemacht hatten, gab es keinen Raum mehr für derlei Förmlichkeiten. Bei aller Gegen sätzlichkeit
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