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Die Judas-Papiere

Die Judas-Papiere

Titel: Die Judas-Papiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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»Dann wird Ihre Liebe zum Orient erst so richtig entflammen!« Und dann raunte er ihnen noch zu: »Der Orient, wohin mich leider meine Geschäfte zwingen, kennt eine riesige Gier, Gentlemen, einen unstillbaren Durst und eine unverwüstliche Aufdringlichkeit, die den Namen Bakschisch trägt! Man kann sich wenden, wohin mal will, immer fliegt einem dieser grobe Knüppel zwischen die Beine. Man kann ihn einfach nicht vermeiden. Deshalb bringt man es besser ohne langes Lamentieren hinter sich und zahlt sein Schmiergeld, insbesondere hier. Stecken Sie dem Zöllner diskret zwanzig Piaster zu und er wird in Ihrem Gepäck plötzlich nichts mehr finden, was zollpflichtig wäre.«
    Genau das tat Byron dann auch, und als hätte er an Aladins Wun derlampe gerieben und sich eine zügige und preiswerte Zollabferti gung gewünscht, wurde der Beamte plötzlich die Freundlichkeit in Person und ließ sie ohne weitere Gebühren ziehen.
    In der Halle hinter der Zollstation warteten schon Trauben von laut lärmenden Schleppern, die sich gegenseitig mit den Anpreisungen ihrer unschlagbaren Dienste und Preise gegenseitig zu übertönen versuchten. Zum Glück standen aber auch livrierte Bedienstete der großen Hotels bereit, die verhinderten, dass die Passagiere des Orient-Express zur Beute dieser Schlepper wurden.
    Alle Hotels und Unterkünfte für Europäer, egal welcher Preisklas se, befanden sich in Galata und Pera, den beiden Stadtvierteln auf dem hügeligen Nordufer des Bosporus. Denn Europäer, ob nun als Besucher oder Ansässige, wohnten ausschließlich in diesem Teil der Stadt, der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts von genuesischen Händlern als eigenständige Siedlung gegründet worden war.
    Unter der Führung eines Hotelkutschers, der von zwei kräftigen Ge päckträgern des Pera Palace begleitet wurde, bahnten sie sich einen Weg durch das wüste Gedränge zu den wartenden Hotelkutschen. Das laute und bunte Gewimmel von Menschen aller Nationen, das vor dem Bahnhof herrschte, gab ihnen einen ersten Eindruck von dem un glaublichen Durcheinander und geschäftigen Treiben, das man den Pulsschlag Konstantinopels nennen konnte. Denn er kam wie bei Mensch und Tier zu keiner Tages-und keiner Nachtstunde zur Ruhe.
    »Heilige Muttergottes!«, entfuhr es Harriet, als sie in der Hotelkut sche über die breite Eisenkonstruktion der Neuen Brücke hinüber nach Galata krochen, auf dessen Hügelspitze sich ein über zweihun dert Fuß hoher, steinerner Rundturm erhob. Anders als im Schritt tempo kamen sie in dem dichten Gewühl von Menschen, Kutschen, Reitern, Ochsengespannen, Eseln, handgezogenen Karren nicht vo ran. Ein Gewühl, das in zwei entgegengesetzte Richtungen strebte und sich in dem Nadelöhr der Brücke gegenseitig im Weg war. Es war, als wäre sich der vieltausendköpfige Tross eines geschlagenen Heeres nicht einig, ob er nun hinüber nach Stambul oder nach Galata und Pera ziehen sollte. Zudem kam es immer wieder zu Staus, weil Brückenzoll zu entrichten war und die Brückner mit dem Eintreiben der eineinviertel Piaster gar nicht so schnell nachkamen, wie die Menschenflut herandrängte.
    Es war ein wahres Gemisch der Kulturen und Nationen, das auf der Galatabrücke hin und her wogte. Da waren Schwarzafrikaner mit nur einem offenen Lederwams über dem sonst nackten Oberkörper, hochgeknöpfte, europäisch gekleidete Geschäftsleute und Touristen, turbantragende Araber in weiten Wüstengewändern und mit langen Krummsäbeln an der Seite, vornehme türkische Kaufleute in Kaftan und Pluderhosen, verschleierte Frauen in vergoldeten Sänften, die von fetten Eunuchen begleitet wurden, spanische Juden mit langen Kringellocken an den Schläfen und noch längeren Bärten, herausgeputzte polnische Offiziere in türkischen Diensten, hagere Derwische in abgerissener Kleidung, eine Gruppe Zigeunermusikanten, russische Jerusalem-Pilger in schwarzen Kutten, fromme Muslime auf dem Weg von oder nach Mekka und dazu noch die ganze schillernde Schar von Matrosen aus aller Herren Länder, Bettler, Zuhälter, Kupplerinnen und jene zahllosen fliegenden Händler mit ihren Bauchläden, Körben, Wassersiphons und sonstigen Behältern, die jede große Hafenstadt bevölkern.
    Da sie nur langsam vorankamen, blieb ausreichend Zeit, auch ei nen längeren Blick auf das Goldene Horn, den Bosporus, zu werfen, diesen hornartig geformten Fluss, der mit starker Strömung unter der Brücke entlangrauschte und nicht weit dahinter in das Weiße Meer, das Marmarameer,

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