Die Judas-Papiere
von Sinope in die Religionsge schichte einging, schon seit mehr als 1700 Jahren tot ist. Er hat näm lich in der Zeit zwischen Ende des ersten und Mitte des zweiten Jahr hunderts nach Christi Geburt gelebt.«
»Das ist ja ein Ding!«, sagte Alistair verwundert. »Aber wenn dieser Markion von Sinope schon seit anderthalb Jahrtausenden zu Staub geworden ist, wie kann Mortimer dann geglaubt haben, dass er hin ter seinem Papyri-Fund her ist? War das nur das Fantasiegebilde ei nes Irren?«
Byron schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht, auch wenn ihm natürlich nicht der wirkliche Markion aus dem zweiten Jahrhun dert nachgestellt haben kann.«
»Und was ist mit Dracula?«, wandte Harriet ein.
»Selbst der hat es nur auf einige Jahrhunderte gebracht. Ich vermu te eher, dass es sich bei diesem Namen um einen Titel innerhalb des Ordens handelt. Aber lassen wir das mal außer Acht«, sagte Byron. »Viel interessanter dürfte für euch sein, wofür der historische Marki on von Sinope gestanden hat. Denn sein Name taucht in mehreren apokryphen Schriften auf und seine Lehre wird auch in der Abhand lung des Irenäus von Lyon gegen die Häresie ausführlich behandelt und auf das Schärfste verworfen.«
»Und was war das für eine Lehre?«, fragte Horatio.
»Irenäus nennt sie die Irrlehre der Kainiten. Das waren glühende Anhänger all der biblischen Mordgestalten und Schurken wie Kain, der seinen Bruder Abel aus Neid erschlug, oder Esau, der sein Erstge burtsrecht für Brot und ein Linsengericht an seinen Bruder Jakob ver kaufte und ihm später nach dem Leben trachtete, sowie die Sodomi ter. All diese negativen historischen Personen wurden von den Kaini ten verehrt. Ausführliche Erwähnung finden sie übrigens auch in den Schriften des Epiphanus und des Theodoret von Kyrus.«
»Bitte sei so rücksichtsvoll, deinem Drang zu theologischen Vorle sungen ein wenig die Zügel anzulegen!«, forderte Alistair ihn auf. »Sonst kriege ich noch Nackenschmerzen von all dem Nicken, zu dem ich mich gezwungen sehe, um mir den Anschein zu geben, dei nen Ausführungen folgen zu können.«
Harriet lachte. »Nun stell dein Licht mal nicht unter den Scheffel! So schwer ist das doch nicht zu verstehen, wenn Byron mal was er klärt. Außerdem haben wir ja Zeit genug. Also erzähl nur weiter von Markion und diesen Kainiten, Byron, aber ohne angezogene Zügel!«
»Markion von Sinope war ein erfolgreicher Kaufmann, der anfangs zur christlichen Gemeinde von Rom gehörte und ihr mit seinen Ge schäften ein großes Vermögen einbrachte«, fuhr Byron fort. »In Rom begann er jedoch schon bald eine neue Theologie zu entwickeln, die mit der christlichen Lehre nicht mehr zu vereinbaren war. Man kann ihn als einen frühen Vertreter der Gnosis bezeichnen.«
Alistair nickte scheinbar kenntnisreich. »Natürlich, die allseits be kannte Gnosis! Jetzt wird mir alles klar! Und ich habe mich schon im mer gefragt, wer sich diese Gnosis ausgedacht hat!«
Byron schmunzelte. »Mit Gnosis bezeichnet man eine philosophische Strömung innerhalb des frühen Christentums mit dem Ziel der wahren Erkenntnis Gottes. Sie hebt sich jedoch fundamental von der Heilslehre Jesu ab, wie sie in den Evangelien verkündet wird. Markion und seine Anhänger waren davon überzeugt, dass die materielle irdische Welt von Grund auf böse sei und niemals zum Guten verändert werden könne. Das Gute sei allein bei Gott im Himmel zu finden.«
»Ein merkwürdiges Ansinnen, Gottes Schöpfung für durch und durch böse und unabänderlich verderbt zu halten«, sagte Harriet.
»Für die Anhänger der Gnosis, aber mehr noch für die Kainiten sind die Menschheit und die irdische Welt keine Schöpfung Gottes, son dern das Werk des Demiurgen, des Gottes des Bösen, der nichts mit dem Gott der Liebe und des Lichts im Himmel zu schaffen hat«, er klärte Byron. »Dieser Demiurg hat die Seele des Menschen in den Körper eingesperrt, er ist für alles Leid und Unglück des Lebens ver antwortlich und er versucht mithilfe all der irdischen Versuchungen, den Menschen davon abzuhalten, den Weg zurück ins Licht der Er kenntnis und zu Gott zu finden.«
»Was für eine grauenvolle Vorstellung, dass die Welt des Teufels ist und Gott hier unten nichts zu sagen hat«, meinte Alistair. »Das geht mir ja noch schwerer in den Kopf als die Behauptung, Jesus sei als Gottes Sohn von Gottvater persönlich zur Erlösung der Mensch heit gesandt worden!«
»Den Kainiten gilt Jesus nicht als
Weitere Kostenlose Bücher