Die Judas-Papiere
heilsbringender Messias, sondern als ein göttliches Wesen mit einem Scheinleib, was man in der Theologie als Doketismus bezeichnet«, fuhr Byron fort. »Nach der Lehre der Kainiten kann es nämlich Erlösung nicht durch Jesu Nachfolge geben, sondern allein durch die geistige Überwindung des ausnahmslos schlechten Materiellen. Dass Markion mit dieser Zwei-Götter-Lehre auf den vehementen Widerspruch der Christen in Rom gestoßen ist, dürfte nicht verwunderlich sein. Sie haben ihn im Jahr 144 als Ketzer exkommuniziert, ihn aus ihrer Gemeinde ausgestoßen und ihm all sein Geld zurückgegeben. So hat er dann seine eigene Kirche gegründet und seine Lehre durch Reisen bis nach Ägypten und Persien ausgebreitet.«
»Dem kann ich ja noch folgen und diese Lehre von zwei Göttern er scheint mir genauso glaubwürdig oder unglaubwürdig zu sein wie die Lehre von dem dreieinigen Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, welche das Christentum predigt«, sagte Alistair. »Was ich jedoch nicht begreife, ist, warum Markion und seine Anhänger ausgerech net Mörder wie Kain verherrlichen.«
Horatio nickte. »Das frage ich mich auch.«
»Ganz einfach: Weil nach der markionitischen Lehre Kain, Esau, Ko rach und die Sodomiter im Gegensatz zu Abraham und Mose, den Lichtgestalten des Alten Testamentes, die vollkommenere, höhere Erkenntnis besessen und das teuflische Spiel des Demiurgen durch schaut haben«, erläuterte Byron. »Indem sie sich nämlich nicht an sei ne Gesetze hielten, sondern sie rücksichtslos übertraten, haben sie sich seiner bösen Macht entzogen. Als bewusste Sünder waren sie deshalb die erklärten Feinde des Demiurgen.«
»Auch dieser Nietzsche würde mit seinen nihilistischen Ansichten wunderbar in diesen Kreis der besonders Erleuchteten hineinpas sen«, bemerkte Horatio spöttisch.
Alistair streckte ihm die Zunge heraus.
»Was nun die Rolle des Judas bei Markion und den Kainiten betrifft, so verehren sie ihn, weil er angeblich als einziger von allen Jüngern und Aposteln die Wahrheit erkannt hat«, setzte Byron seine Ausführungen fort. »In den häretischen Schriften heißt es, er sei groß wegen seiner Wohltaten, die er dem menschlichen Geschlecht zuteil werden ließ. Und deshalb ist für alle heutigen Anhänger dieser markionitischen Lehre ein solches Evangelium des Judas von großer Bedeutung. Damit könnten sie ihre Lehre unter mauern und sich von dem Vorwurf befreien, eine unbedeutende Splittersekte zu sein.«
»Damit steht jetzt also fest, dass es sich bei den Männern des ge heimen Ordo Novi Templi um Kainiten handelt«, sagte Harriet. »Kein Wunder, dass sie so darauf versessen sind, Mortimers Papyri in ihren Besitz zu bringen. Je nachdem, was in dieser Judas-Schrift steht, wä re das ein Triumph für sie und ein Tiefschlag für die christlichen Kir chen. Und einige Passagen, die du in Mortimers Notizbuch gefunden hast, Byron, lassen ja vermuten, dass es sich dabei um markioniti sche Lehren handelt.«
Byron nickte. »Aber wie ich schon einmal sagte, wird so ein Judas-Evangelium keinesfalls die christlichen Kirchen in ihren Fundamen ten erschüttern, höchstens den Kainiten mehr öffentliches Interesse und neue Anhänger bringen. Denn all diese Lehren sind ja schon zur Genüge bekannt und seit Jahrhunderten in zahlreichen Schriften be handelt worden. Außerdem vertraten die Katharer eine ähnliche Zwei-Götter-Lehre vom Demiurgen als Weltschöpfer und vom Gott der Liebe und des Lichtes, zu dem die Seele nur durch strenge weltli che Entsagung und geistige Erkenntnis zurückkehren kann. Ihre Glaubensbewegung nahm vom zwölften bis zum vierzehnten Jahr hundert in Südfrankreich ihren Ausgang und verbreitete sich auch nach Deutschland, Spanien und Italien, bis dann die römische Kirche zwischen 1209 und 1310 einen vernichtenden Krieg gegen sie unter nahm, der auch als Albigenserkreuzzug in die Geschichte eingangen ist.«
»Richtig, die Katharer!«, erinnerte sich Horatio. »Auch bei ihnen gab es doch den Rang des Perfectus. So wurde jemand genannt, der schon die hohe Stufe der Erkenntnis erreicht hatte. Das muss der Or do Novi Templi von ihnen übernommen haben.«
Byron nickte. »Wie auch die Bezeichnung ›Credens‹ für denjenigen Gläubigen, der noch zu sehr in der irdischen Welt verhaftet war. Die Credentes wurden erst nach der Geistestaufe, dem sogenannten Consolamentum, zu Perfecti und hatten dann ein enthaltsames mo nastisches Leben zu führen. Das scheinen die Ordensmänner vom Neuen Tempel
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