Die Judas-Papiere
Schmerz in die Bewusstlosigkeit zu flüchten. Er biss in das Holz der Geißel und schrie erstickt auf, als er den bluten den Stumpf in das Jodbad tunkte. Ihm war, als berührte er glühende Kohlen.
Zitternd vor Schmerz schmierte er Salbe auf die Wunde und be gann, Verbandsstoff anzulegen. Den Rest musste ein Wundarzt erle digen, der im europäischen Viertel von Pera sicherlich schnell zu fin den sein würde.
Doch bevor er die Kraft fand, nach unten zum Empfang zu gehen und sich den Weg zum nächstgelegenen Arzt weisen zu lassen, ver brachte er erst lange schmerzerfüllte Minuten zusammengesackt über dem Tisch.
Der levantische Arzt, der die Wunde später vernähte, stellte keine Fragen, bei welcher Art von Unfall er den Finger verloren hatte. Viel leicht dachte er sich auch seinen Teil beim Anblick der glatten Schnittwunde. Jedenfalls machte er seine Arbeit, nahm sein Honorar und wünschte schnelle Heilung.
Weil er sich nicht in der Lage fühlte, in seinem schmerzgepeinigten Zustand das Telegrafenamt aufzusuchen und das Kabel an Bischof Markion aufzugeben, kehrte Graham Baynard erst einmal in sein Hotelzimmer zurück.
Lange saß er mit stumpfem Blick am Tisch. Ihn graute vor der Rück kehr nach London. Irgendwann griff er erneut zu Mortimers Notiz buch, blätterte es bis zu den abgetrennten Seiten durch und fragte sich immer wieder aufs Neue, wie es nur zu seinem Versagen hatte kommen können.
Auf einmal stutzte er. Vor ihm lag die leere Seite, die auf den he rausgeschnittenen Teil folgte. Waren dort nicht vage Umrisse zu er kennen? Das heiße Pochen in seiner Hand vergessend, nahm er das Notizbuch hoch und hielt es seitlich ins Licht.
Wilde Erregung erfasste ihn, als er begriff, was er dort sah. Morti mer Pembroke musste auf der letzten der fehlenden Seiten mit Blei stift oder einer spitzen Feder eine Zeichnung angefertigt haben, und dabei hatten sich die Linien auf die nächste leere Seite durchge drückt.
Augenblicke später hielt der Perfectus einen Bleistift in der Hand und begann, die Seite mit feinen Strichen zu schraffieren, ohne da bei mit dem Stift viel Druck auszuüben. Nach und nach trat die Zeich nung einer Landschaft hervor.
Eigentlich war sie nichtssagend. Die Zeichnung besaß nichts Spezi fisches, um sie einem ganz bestimmten Land, geschweige denn ei nem konkreten Ort zuordnen zu können. Schon machte sich bittere Enttäuschung breit, doch da bemerkte Graham Baynard ein Zeichen, das Mortimer in die Landschaftsskizze eingefügt hatte.
Sofort wusste er, wohin er sich begeben musste, um dort Ausschau nach Arthur Pembrokes Gruppe zu halten, die sich im Besitz der letz ten Seiten befand. Sie würden ihm nicht entkommen. Denn wer in dieses Land reiste, der musste einfach durch diese Stadt kommen.
Und da sie in Wien im Bristol gewohnt, den Orient-Express genommen und in Konstantinopel im Pera Palace abgestiegen waren, würden sie sicherlich auch dort in einem der besten Hotels Quartier nehmen. Und die Zahl der Häuser erster Klasse war in jener Stadt an einer Hand abzuzählen, sogar an seiner linken!
Er hatte also noch eine Chance, das Versteck des Judas-Evangeli ums zu finden, und er würde sie zu nutzen wissen, bei Markion und den Erwählten Kain und Judas!
Sechster Teil
Das sichtbare Wort
1
D er Dampfer Xerxes erwies sich zwar nicht als rostzerfressener See lenverkäufer, verhielt sich aber zum Luxus des Pera Palace wie ein Gü terzug mit angehängtem Passagierwagen dritter Klasse zum Orient-Express. Der Dampfer war vornehmlich ein Frachtschiff, das zusätz lich noch über drei Dutzend Kabinen für Reisende mit bescheidenen Ansprüchen an Unterkunft und Verpflegung verfügte. Bei ihren gera de mal neun Mitreisenden handelte es sich ganz offensichtlich um kleine Kaufleute und Vertreter, die aus beruflichen Gründen nach Kum-Tale, Limnos oder Saloniki wollten. Touristen auf Bildungs oder Vergnügungsreise befanden sich keine unter ihnen, was bei dieser Jahreszeit und dem drittklassigen Standard der Xerxes auch nicht verwunderte.
Konstantinopel lag mit seinen im klaren Morgenlicht leuchtenden Kuppeln und stolz emporragenden Minaretten noch in Sichtweite, als Byron sich mit seinen Freunden auf dem Achterdeck unter dem Sonnendach zusammensetzte, um endlich herauszufinden, was auf der kleinen Papierrolle stand, die Mortimer im Krummsäbel ver steckt hatte.
Horatio zog das Stück Papier hervor, das gerade mal so groß wie eine Geldnote war, rollte es auseinander und beschwerte es an den Seiten
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