Die Judas-Papiere
sich spät in der Nacht auf dem Weg von der Toilette zu rück zu seiner Kabine befand und an ihrer Tür vorbeikam, hörte er, dass Harriet wieder einmal im Schlaf mit ihren Dämonen rang. Dies mal zögerte er nicht einen Augenblick. Er fand ihre Kabinentür un verschlossen und trat leise ein.
Wie erwartet brannte eine der Kabinenleuchten. Sie musste die Dunkelheit der Nacht fürchten. Doch weder das Licht noch das Laudanum bewahrten sie offensichtlich vor ihren schlimmen Albträumen. Eines der beiden Fläschchen aus braunem Glas stand auf dem Brett unter dem Bullauge und verriet, dass sie vor dem Zubettgehen einen Schluck davon genommen hatte.
Harriet lag in gekrümmter Haltung im Bett und warf im Schlaf den Kopf hin und her, als wollte sie so den albtraumhaften Bildern ent kommen, die sie bedrängten. Ihre Hände hatten sich über der Brust in die Decke gekrallt. Sie wimmerte, schluchzte und stieß unver ständliche Satzfetzen hervor, wie er es schon die beiden anderen Male erlebt hatte. Und auch diesmal krampfte sich alles in ihm zu sammen, als er sie so leiden sah.
Er setzte sich auf die Kante ihrer Koje und begann, leise auf sie einzureden und sie zu streicheln, so wie er es im Orient-Express getan hatte. Doch anders als in jener Nacht fiel sein Streicheln diesmal nicht so behutsam und federleicht aus. Die Folge seiner Zärtlichkei ten jedenfalls war, dass nicht nur der Albtraum von ihr wich, sondern auch der Schlaf und sie die Augen aufschlug.
Für einen langen Moment sah sie ihn stumm an.
»Du hattest einen Albtraum«, sagte Byron leise. »Ich war draußen auf dem Gang, und als ich dich weinen hörte, konnte ich einfach nicht anders, als hereinzukommen.«
»Du warst es auch damals im Zug«, erwiderte sie. »Ich war mir am Morgen nicht sicher, ob ich es nur geträumt hatte oder ob du tat sächlich an meinem Bett gesessen und mich gestreichelt hast.«
Er nickte. »Ich konnte einfach nicht anders«, beteuerte er noch ein mal. »Es hat mir wehgetan, dich im Schlaf wimmern und schluchzen zu hören. Verzeihst du mir?«
»Was könnte es da zu verzeihen geben, Byron? Es war der schönste Traum, den ich seit vielen Jahren hatte. Aber zu wissen, dass es gar kein Traum gewesen ist, macht es noch viel kostbarer«, flüsterte sie und berührte ihn sanft am Arm.
Diese Berührung und das, was er in diesem Augenblick in ihren Au gen las, gab ihm den Mut, das zu tun, was er sich schon seit Langem sehnlichst wünschte.
Zärtlich nahm er ihr Gesicht in seine Hände, beugte sich zu ihr hi nunter und küsste sie. Ganz behutsam und voller Furcht, damit die Grenze des Erlaubten zu überschreiten.
Doch seine Furcht erwies sich als unbegründet. Denn kaum hatten sich ihre Lippen berührt, als sie auch schon die Arme um seinen Hals legte, ihn an sich zog und seinen Kuss erwiderte.
Es war ein Kuss sich wortlos einander versichernder Liebe, den keiner von ihnen als Erster beenden wollte. Wie Ertrinkende hielten sie sich umklammert und ertranken dann doch in diesem langen Kuss, in dem die Erlösung von einer viel zu lang zurückgehaltenen Sehnsucht lag.
»Endlich!«, stieß Harriet atemlos hervor, als sie einander dann doch freigaben. »Endlich ist es geschehen.«
»Ja«, sagte Byron nur. Er konnte nicht recht fassen, dass es nun wirklich geschehen war. Es verwunderte ihn, dass ausgerechnet er den ersten Schritt getan hatte. Dabei hatte er sich doch jahrelang ei sern an seinen Schwur gehalten, sich nie wieder von seinen Gefühlen für eine Frau dazu hinreißen zu lassen, seinen Schutzpanzer abzule gen und sich verwundbar zu zeigen. Aber nun wurde ihm klar, dass man Liebe ebenso wenig erzwingen wie in sich zum Schweigen brin gen konnte. Ihre Macht überstieg jede menschliche Willenskraft, wenn sie erst von einem Besitz ergriffen hatte.
»Weißt du, wann . . . wann es bei dir angefangen hat?«, fragte sie, nun ein wenig verlegen, als schämte sie sich dafür, dass sie seinen Kuss erwidert hatte.
Byron dachte nach. »Ich glaube, es dämmerte mir, als dir der Or densmann in der Wiener Kanalisation das Messer an die Kehle ge setzt und dann kurz darauf auf dich geschossen hat.«
»Bei mir war es etwas später«, sagte Harriet. »Und zwar im Orient Express. Aber ich wollte erst nichts davon wissen und habe es als dumme Träumerei abgetan. Was sollte denn ein Mann wie du mit ei ner wie mir zu tun haben wollen?«
»Was soll denn das heißen, ›mit einer wie mir‹?«, fragte Byron ver wundert.
»Na ja, ich gehöre nun mal nicht
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