Die Judas-Papiere
Hotelzimmer zu gelangen und Mortimers Aufzeichnungen zu studieren. Das hatte er dann auch Stunde um Stunde getan. Doch der Jubel war ihm bald vergangen. Erst war es nur eine schwache Ahnung gewesen, die er nicht wahrhaben wollte. Aber wie winziges Gewürm, das ihm unter der Haut saß und sich immer weiter ausbreitete, bis es ganz von ihm Besitz ergriffen hatte, wurde aus dieser peinigenden Ahnung schließlich die Gewissheit, dass in Mortimers Notizbuch Seiten fehlten. Man hatte ihn in der Zisterne getäuscht!
Von Bischof Markion wusste er, worauf er zu achten hatte. Vor gut anderthalb Jahren hatte Mortimer Pembroke ihn, den ausgewiese nen Kenner apokrypher Schriften, doch ohne Wissen um Markions wahren Namen und wahre Identität, zur Begutachtung der von ihm gefundenen Papyri nach Pembroke Manor gebeten.
Um ein Haar wäre es ihrem Ordensoberen gelungen, Mortimer da zu zu bringen, ihm die uralte Schrift für eine nähere Begutachtung zu überlassen. Markion hatte sofort gewusst, was er da vor sich hat te, und er hätte die Papyri nie wieder herausgerückt. Aber plötzlich hatte es bei dem unberechenbaren Lord, der wegen seiner Schübe geistiger Verwirrung gefürchtet war, einen jähen Stimmungswech sel gegeben. Von einem Moment auf den anderen hatte er Bischof Markion rüde und unter unflätigen Verwünschungen vor die Tür ge setzt und wie einen Hausierer davongejagt.
Doch was ihr geistiger Führer in der kurzen Zeit seines Besuchs auf Pembroke Manor hatte in Erfahrung bringen können, war die grobe geografische Region, wo Mortimer das Evangelium des Judas gefun den hatte. Und das war deshalb von so großer Bedeutung, weil Mortimer in seinem unvermittelten Wutausbruch Markion angeschrien hatte, eher werde er die Judas-Papyri wieder dorthin zurückbringen, wo er sie gefunden habe, als dass er sie einem raffgierigen Lumpen wie ihm oder sonst einem Scharlatan überlasse. Wenig später war der Lord so überstürzt und buchstäblich bei Nacht und Nebel zu einer Reise aufgebrochen, dass sie ihn aus den Augen verloren hatten. Und wenn ein Hausdiener der Pembrokes ihnen nicht zugetragen hätte, dass Mortimer bei seinem Tod kurz nach seiner Rückkehr ein merkwürdiges Notizbuch mit Einträgen über seine letzte Reise hinterlassen hätte, das der neue Lord wie seinen Augapfel hüte, dann wäre das Judas-Evangelium für sie unerreichbar geblieben.
Diese Hinweise auf die Region des Fundortes fehlten jedoch in Mortimers Aufzeichnungen. Und Graham Baynard zweifelte nicht daran, dass sie da gewesen waren. Denn er hatte im Notizbuch hin reichend viele Anspielungen auf all die anderen Orte gefunden, zu denen er den drei Männern und der Frau gefolgt war. Es wimmelte nur so von Anspielungen auf Wien, den Balkan, Konstantinopel und ein Land mit orthodoxem Irrglauben. Und als er schließlich zu einer Lupe gegriffen und dann auch noch den oberen Abschnitt der Bin dung aufgeschnitten hatte, war er auf die winzigen Reste abgetrenn ter Seiten gestoßen. Es waren genau zehn, die fehlten. Und ohne diesen letzten Teil, um den er sich hatte betrügen lassen, waren Mortimers Aufzeichnungen nutzlos.
Der Perfectus wusste, was das bedeutete. Er brauchte Bischof Mar kions Antwort auf sein Kabel, das er später am Vormittag aufgeben musste, erst gar nicht abzuwarten. Sein Versagen so kurz vor dem Ziel war unverzeihlich. Und die Strafe, die ihm dafür gebührte, kann te er. Deshalb würde er auch nicht warten, bis sein Oberer sie ihm auferlegte, sondern sie sogleich vollstrecken. Was er dafür brauchte, führte er mit sich.
Während der neue Tag heraufdämmerte, entnahm Graham Baynard aus seiner Reiseapotheke alles, was er gleich griffbereit auf dem Tisch haben musste. Er legte drei Rollen mit Verbandsstoff he raus, schraubte den Deckel von der Dose mit Wundsalbe und füllte den Boden einer Untertasse mit Jod.
Als alles an seinem Platz lag, zögerte er nicht lange. Er griff zur Gei ßel und klemmte sich den Holzstiel zwischen die Zähne. Dann ballte er seine linke Faust bis auf den kleinen Finger. Den legte er an der Kante des Tisches auf die Platte, setzte mit der Rechten sein Rasier messer an das hinterste Gelenk und tat, was getan werden musste.
»Stirb, verderbtes Fleisch!«, stieß er hervor und drückte mit aller Kraft zu.
Der Schmerz, der ihm von der Hand durch den Körper jagte, als er sich den kleinen Finger abtrennte, raubte ihm fast das Bewusstsein. Doch mit aller Willenskraft kämpfte er gegen den Wunsch an, sich vor dem wütenden
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