Die Judas-Papiere
ihres Sekretärs auf ihr Tagebuch. Und darin hatte sie alles ausführlich festgehalten, ihren Flirt mit mir, ihre Affäre mit dem Offizier und die Tatsache, dass sie von ihm schwanger geworden war und fürchtete, ich könnte George die Augen öffnen. Deshalb wollte sie mich vor seiner Rückkehr unbedingt tot sehen.«
»Was für eine gewissenlose Frau!«
»Ja, und diese wahre Constance verbarg sich hinter der schönen Fassade und der Maske der Schuldlosigkeit. George hat mir ihr Tage buch zugeschickt und mich in seinem Begleitbrief um Verzeihung für das gebeten, was Constance und er mir angetan hatten. Mir das per sönlich zu sagen, dazu fühlte er sich nicht in der Lage. Er hat den Be trug nicht verkraftet, ein Großteil seines Erbes an wohltätige Organi sationen verschenkt, England verlassen und ist nach Indien gegan gen. Es heißt, er wäre dort vor zwei Jahren bei einem Aufstand ums Leben gekommen. Genaueres weiß ich nicht, es hat mich auch nicht interessiert. Das Tagebuch und seinen Brief habe ich verbrannt – und mir dann geschworen, mein weiteres Leben als Junggeselle zu verbringen.«
»Und was wird nun aus diesem Schwur?«, fragte sie leise.
Zärtlich sah er sie an. »Muss ich dir darauf noch antworten?«
»Ach, Byron«, seufzte sie auf einmal und Bedrückung zeigte sich auf ihrem Gesicht. »Vielleicht ist das, was wir hier haben geschehen lassen, ein großer Fehler . . .«
»Wie kannst du so etwas nur denken?«, sagte er betroffen. »Be reust du es plötzlich, dass... dass wir uns geküsst haben und du nun weißt, wie sehr ich . . . dich liebe?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nichts davon bereue ich. Und ich wünschte, nichts stände uns im Wege, diese Liebe auch gemeinsam zu leben«, versicherte sie, jedoch mit trauriger Stimme. »Aber . . .« Sie brach ab.
»Was aber?«, wollte er sofort wissen.
»Ich fürchte, du weißt nicht, auf wen du dich mit mir einlässt, By ron«, murmelte sie bedrückt. »Ich schleppe ebenfalls eine Last aus meiner Vergangenheit mit mir durchs Leben. Und es ist wahrlich kei ne, über die man jemals hinwegkommt und die es möglich machen könnte, dir die Frau zu sein, die du dir wünschst und die du verdient hast. Ich habe das Leben eines Menschen auf dem Gewissen, Byron. Das schüttelt man nie ab, wenn man ein Gewissen hat.«
»Sind das die schrecklichen Albträume, die dich so oft quälen und weshalb du Zuflucht bei diesem Teufelszeug Laudanum suchst?«, fragte er und deutete auf das braune Fläschchen auf dem Brett unter dem Bullauge.
»Du weißt davon?«
»Ja, Basil Sahar hat mir erzählt, dass du ihn gebeten hattest, dir zwei Fläschchen mit verdünntem Opium zu besorgen«, sagte Byron. »Er war besorgt um dich – und ich bin es noch unvergleichlich viel mehr! Du darfst es nicht nehmen, ich flehe dich an. Es ist reines Gift und zerstört auf Dauer Geist und Körper, auch wenn du jetzt noch nichts davon merkst. Du musst mir versprechen, die Finger davon zu lassen!«
»Ich weiß ja, dass du recht hast«, erwiderte sie gequält. »Aber wenn ich es nicht nehme oder nur so wenig wie heute Nacht, dann . . . dann kommen sie wieder, diese entsetzlichen Bilder!«
»Dann musst du lernen, dich ihrer anders zu erwehren!«, beschwor er sie. »Was sind das denn für Albträume?«
Harriet blickte an ihm vorbei. »Ich . . . ich möchte nicht darüber sprechen«, flüsterte sie.
Er schwieg und wartete. Sie zu bedrängen, wenn sie sich ihm nicht aus freien Stücken anvertrauen wollte, lag ihm fern. Doch er hoffte, dass sie es von sich aus tun würde.
»Es passierte an einem Herbsttag kurz vor Morgengrauen«, begann sie nach einer Weile des Schweigens. »Ich war damals vierzehn und mit Verwandten zu einer Jagd eingeladen. Wir waren schon lange vor Tagesanbruch auf der Pirsch, um in ein bestimmtes Gebiet des Reviers zu kommen. Ich war hundemüde, weil ich die Nacht kaum geschlafen hatte. Als wir eine kurze Rast einlegten, schlief ich mit meinem Gewehr in den Händen an einen Baum gelehnt ein. Und dann... dann ist es passiert.« Sie schluckte heftig und schwieg einen Augenblick.
Byron hielt ihre Hand und wartete.
»Ich fuhr plötzlich aus dem Schlaf auf und zog dabei den Abzugs hahn durch«, fuhr sie schließlich mit zitternder Stimme fort. »Die Ku gel traf meinen Verwandten, der mich aus dem Schlaf geholt hatte, aus nächster Nähe und tötete ihn auf der Stelle.«
»Ich kann verstehen, dass dich ein so entsetzlicher Unfall lange ver folgt«, sagte er mitfühlend.
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