Die Judas-Papiere
während seiner Reise auszuspannen?«, mutmaßte Harriet.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, viel schlimmer. Zum Bekanntenkreis ihrer Eltern gehörte ein Offizier des königlichen Garderegiments, ein gut aussehender und charmanter Mann, der in seiner prächtigen Uniform so manche Frau dazu brachte, sich nach ihm umzusehen. Constance hatte mir von ihm erzählt und dabei nicht ohne Kokette rie erwähnt, dass er ihr den Hof machte und dabei offenbar weniger Hemmungen hatte als ich. Ich sah sie auch mehrfach zusammen im Theater und bei einem Konzert. Aber ich dachte mir in meiner Naivi tät und Gutgläubigkeit nichts dabei. Schon gar nicht kam mir der Ge danke, Constance könnte ihn ermutigt haben.«
»Nicht jeder gibt so viel auf seine Ehre wie du«, warf Harriet ein.
»Das ist mir später auch klar geworden, aber da war es schon zu spät«, fuhr Byron fort. »Als der Sommer sich seinem Ende zuneigte und es bis zu Georges Rückkehr nur noch eine gute Woche hin war, kam der Tag, an dem Constance und ich eine kleine Kahnpartie auf dem Fluss mit anschließendem Picknick geplant hatten. Doch daraus wurde nichts. Denn schon gleich bei ihrem Eintreffen brach sie in ein verzweifeltes Schluchzen aus. Ich brauchte eine Weile, um sie zu be ruhigen und sie zu fragen, was denn so Schreckliches geschehen war. Und dann berichtete sie unter Tränen, dass der Gardeoffizier sie eines Nachts nach einem Theaterbesuch noch in ein Lokal ausge führt hatte, sie zu übermäßigem Champagnergenuss verleitet und ihre Trunkenheit später dazu ausgenutzt habe, sie zu verführen und ihr die . . . die Ehre zu rauben.«
»Du meinst, er hat sie vergewaltigt«, korrigierte sie ihn. »Entschul dige, aber ich mag diese gestelzten Bezeichnungen wie ›geraubte Ehre‹ und ›gefallenes Mädchen‹ nicht, mit denen prüde Leute das be mänteln, was ihnen peinlich auszusprechen ist.«
»Hältst du mich für prüde?«
Sie lächelte ihn an. »Einen Mann, der sich des Nachts in das Schlaf zimmer einer züchtigen und scheuen Jungfrau schleicht und ihren Schlaf ausnutzt, um sie zu streicheln, würde ich nicht gerade prüde nennen«, neckte sie ihn. »Aber erzähl weiter!«
»Jetzt wird es schwierig«, sagte Byron. »Denn heute weiß ich nicht mehr recht zu sagen, wie Constance mich dazugebracht hat, mich mit dem Offizier auf ein Pistolenduell einzulasssen, um ihre Ehre zu retten.«
»Du hast dich mit dem Mann duelliert?«, stieß sie bestürzt hervor. »Aber solche Ehrenduells sind doch längst verboten!«
Byron zuckte die Achseln. »Es gibt sie dennoch immer wieder. Denn wo kein Ankläger ist, da ist auch kein Richter.«
»War das jener Tag, an dem sie dich geküsst hat?«
Er nickte. »Ich war ein ausgemachter Dummkopf, gefangen in mei ner Liebe zu ihr und dem Ehrenkodex, in dem ich aufgewachsen bin. Jedenfalls habe ich mich darauf eingelassen. Zudem versicherte sie mir, dass ihrer Ehre Genüge getan sei, wenn jeder der Duellanten nur symbolisch einen Schuss hoch über den Kopf des anderen abgab. Aber das war eine Lüge. Denn dem Offizier hatte sie erzählt, ich hät te sie ...zu vergewaltigen versucht. Und sie hatte ihn beschworen, bei dem Duell bloß keine Gnade walten zu lassen.«
»So eine mörderische Intrige!«
»Während ich also im Morgengrauen auf einer einsamen Waldlich tung meinen Schuss in den Himmel abgab, schoss er gezielt und traf mich in die rechte Brust. Immerhin hatte er den Anstand, mich dort nicht verbluten zu lassen, sondern mich vor dem nächsten Kranken haus abzuladen. Ich schwebte mehrere Tage zwischen Leben und Tod und brauchte Wochen, um mich von der Verletzung zu erholen. Und während ich im Krankenhaus lag und um mein Leben rang, drängte Constance ihren zurückgekehrten George umgehend zur Hochzeit. Und sie setzte ihren Willen auch durch. George ließ mich im Krankenhaus per Brief wissen, dass ich es nicht wagen solle, ihm jemals wieder unter die Augen zu treten. Andernfalls werde er voll enden, was Constances Ehrenretter leider nicht ganz geschafft hat te! Ich habe sowohl ihn als auch Constance nie wieder gesehen.«
»Und woher weißt du, dass Constance ihren Offizier dazu aufgesta chelt hat, dich bei dem Duell zu töten?«, fragte Harriet.
»Weil Constance keine acht Monate nach ihrer Hochzeit mit einer angeblichen Frühgeburt niederkam. Doch bei der Geburt stellten sich schwere Komplikationen und Blutungen ein, sodass Mutter und Kind starben«, berichtete Byron. »Nach ihrem Tod stieß George dann beim Aufräumen
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