Die Judas-Papiere
eine Gestalt über die Dienstbotenstiege hinunter ins Erdgeschoss schlich, dort im Mittel trakt lautlos wie ein Schatten über die dunklen Gänge huschte und kurz darauf vorsichtig die Tür zur Bibliothek öffnete.
Die Gestalt führte weder ein Kerzenlicht noch eine Öl-oder Petro leumlampe mit sich. Die Dunkelheit war ihr Verbündeter. Sie glitt durch den Türspalt in das Reich von Zehntausenden von Büchern, schloss die Tür hinter sich lautlos und eilte an den doppelstöckigen, teils mit Glastüren versehenen Bücherwänden vorbei. Wollte man zu den Folianten in der oberen Etage der Bibliothek, musste man hinauf auf die dort umlaufende Galerie. Zu ihr gelangte man über die bei den eisernen Wendeltreppen, die rechts und links in der Mitte der Längswände nach oben führten.
Die Gestalt stieg eine der beiden Wendeltreppen hinauf und folgte oben dem schmalen, mit Teppichläufern ausgelegten Gang der Gale rie bis zu einem Rundbogen mit einer in die Buchwand eingelasse nen Tür.
Die Tür war nur angelehnt. Die nächtliche Gestalt befand sich im nächsten Augenblick in einem recht kleinen, aber sehr intimen und nobel eingerichteten Studierzimmer. Durch den Halbbogen eines von Sprossen unterteilten Fensters, das auf die rückseitigen Terrassen-und Gartenanlagen hinausging, fiel ein wenig Mondlicht in diesen Raum, für den fast alle Herren von Pembroke Manor eine besondere Vorliebe gezeigt hatten. Der schwache Mondschimmer fiel auf einen antiken Schreibtisch, der einst dem französischen Sonnenkönig ge hört hatte, und auf die neueste technische Errungenschaft, die sich Telefon nannte und sich allmählich immer größerer Beliebtheit bei je nen erfreute, die sich diese unglaubliche Einrichtung leisten konnten.
Die Gestalt hob die Muschel von der Gabel, presste sie ans Ohr, be tätigte mehrmals die Wippe und wartete auf die weibliche Stimme von der Vermittlungszentrale im nahen Dover.
»Ich möchte mit einem Teilnehmer in London verbunden werden!«, teilte die Gestalt dem Fräulein vom Amt mit. Dabei hatte sie ihre Lip pen nahe am Sprechtrichter, um so leise wie möglich sprechen zu können. »Die Nummer ist Kensington 2 . . . 7 . . . 9.«
Kurzes Schweigen. »Entschuldigen Sie die Frage, Sir«, sagte dann die Frauenstimme in der Ohrmuschel. »Aber sind Sie sich auch si cher, dass Sie diese Verbindung zu dieser Uhrzeit möchten? . . . Ich meine, wir haben gleich halb drei in der Nacht, Sir!«
»Ja, Sie haben schon richtig verstanden, Miss! Ich möchte die Ver bindung jetzt!«
»Oh, natürlich, Sir. Ganz wie Sie wünschen, Sir!«, sagte das Fräulein vom Amt in Dover hastig und ihr war die Verlegenheit an ihrer Stim me anzumerken. »Bitte bleiben Sie am Apparat. Die Verbindung ist gleich hergestellt, Sir!«
Wenige Augenblicke später stand die Verbindung zu Kensington
Dort meldete sich eine dunkle Männerstimme, die trotz der späten Nachtstunde erstaunlich munter klang und gar nicht so, als hätte das Klingeln des Telefons den Mann in Kensington aus tiefem Schlaf gerissen.
Die Gestalt im Studierzimmer wartete einen Moment. Dann sagte sie in den Sprechtrichter leise den ersten Teil des Losungswortes: »Similitudo . . .«
»... Dei«, kam sofort der zweite Teil der Losung als Antwort. »End lich! Ich hatte mir allmählich schon ernsthaft Sorgen gemacht!«
»Ich weiß, aber früher konnte ich es nicht wagen, Abbot«, antwor tete die Gestalt auf Pembroke Manor. »Es ist sehr spät geworden. Und dann musste ich sichergehen, dass auch alle in tiefem Schlaf liegen.«
»Natürlich. Erzählen Sie! Haben Sie Mortimer Pembrokes Notiz buch zu sehen bekommen?«
»Ja, aus nächster Nähe. Es existiert und scheint gut erhalten. Keine Beschädigungen, Abbot.«
»Das ist schon mal sehr beruhigend«, sagte der Mann in Kensington erleichtert.
»Der Auftrag ist erteilt und angenommen. Keiner ist abgesprun gen.«
»Gut. In wessen Besitz befindet sich das Buch jetzt?«
»Es liegt noch hier im Tresor. Aber Lord Pembroke wird es Mister Bourke an Bord der Fähre kurz vor dem Auslaufen aushändigen. By ron Bourke soll sozusagen der Kopf und Anführer des Teams sein.«
»Wie sehen die genauen Pläne für die nächsten Tage aus?«
»Die Jagd beginnt am Montag, Abbot! Überfahrt mit einem Fähr schiff der Chatham and Dover Steamship Company nach Ostende. Dann weiter mit dem Expresszug. Die erste Station wird Wien sein. Ihre Unterkunft im Hotel Bristol am Kärntnerring ist schon telegrafisch re serviert.«
»Sehr gut! Das ist
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