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Die Judas-Papiere

Die Judas-Papiere

Titel: Die Judas-Papiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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Horatio verärgert. »Und kommen Sie nicht noch einmal auf die Idee, mich mit Ihrem Kasten anzublitzen, McLean! Sonst werde ich ungemütlich!«
    Alistair grinste vergnügt. »Gleiches Bett, verschiedene Träume wie der Chinese jetzt sagen würde.«
    »Was ist?«, fragte Harriet ungeduldig. »Wollen wir hier noch länger herumstehen und womöglich Aufmerksamkeit erregen? Bringen wir es endlich hinter uns!«
    Byron nickte ihr zu, drückte Horatio eine der beiden Petroleum lampen in die Hand und leuchtete mit seiner Lampe in das klaffende Rund des Einstiegsschachtes. Der Lichtschein fiel auf altes rotes Zie gelgestein und rostige Tritteisen, die in die Tiefe führten. Wie tief hinunter die Steigeisen reichten, war von oben nicht zu erkennen.
    Ohne langes Zögern und Reden stellte er seine Lampe neben der Öffnung ab, schob die Beine über den Rand und tastete nach den ersten Steigeisen. Als nur noch der Kopf herausragte, nahm er das Ende der Leine fest zwischen die Zähne und ließ die Petroleum-leuchte langsam an sich vorbei in die Tiefe gleiten, bis die Leine straff wurde. Auf diese Weise hatte er beide Hände frei für den Ab stieg und doch Licht im Schacht, ohne dass er sich am heißen Glas zylinder verbrannte.
    Ein fauliger, unangenehm süßlicher Geruch stieg von unten auf. Er vergaß beim Abstieg, die Tritteisen zu zählen. Doch als er unten auf der Sohle des engen, röhrenförmigen Kanals angekommen war und nach oben blickte, schätzte er, dass er sich nun zehn bis zwölf Meter unter der Straße befand. Ein schmaler Strom dunkelbrauner Brühe umfloss seine Füße und reichte ihm bis über die Gelenke. Er floss aus einer hufeisenförmigen Röhre hinter ihm, in welcher ein normal großer Erwachsener nicht aufrecht stehen konnte und die sich unter dem Schacht nur wenige Schritte weit nach oben hin öffnete, und er verschwand vor ihm in einer ähnlich schmalen und niedrigen Abflussröhre.
    Es wurde daher sehr eng dort unten, als erst Harriet und dann Alis tair ihm folgten. Horatio stieg als Letzter herab, nachdem er den Gul lydeckel wieder über die Öffnung und in seinen Eisenring gezerrt hatte.
    »Warum müssen wir bloß mitten in der Nacht zu so einem absto ßenden Ort hinuntersteigen!«, entfuhr es Alistair angeekelt, als sein Blick auf die übel riechende Brühe zu ihren Füßen fiel.
    Harriet lachte. »Lieber Alistair, hier unten ist es doch immer Nacht. Auch wenn oben die Sonne scheint!«
    »Außerdem laufen wir zu dieser Stunde keinen Kanalarbeitern über den Weg, höchstens vielleicht einem Strotter«, sagte Byron und holte die Karte hervor, die er angefertigt hatte.
    »Strotter?«, fragte Alistair sofort nach. »Was oder wer soll das denn sein?«
    »Wie man mir heute Morgen erzählt hat, sind das die ärmsten der armen Schlucker Wiens, die in ihrer bitteren Not nachts durch die Kanäle streifen und die Abwässer nach verwertbaren Gegenständen durchsuchen«, erklärte Byron. »Gefischt wird mit Magneten, mit an Stöcken befestigten Netzen und Sieben oder mit behelfsmäßig er richteten kleinen Wehren. Die Fettfischer unter den Strottern sollen insbesondere nach Knochen, Fleischresten und Fettstücken suchen, die sie oben irgendwo trocknen und dann für ein paar Heller das Kilo an die Seifenindustrie verkaufen.«
    Harriet machte ein ungläubiges Gesicht. »Was? Hier unten in die sem stinkenden Reich der Finsternis leben Menschen und suchen sich Nacht für Nacht aus dem Abwasser sozusagen ihren Lebensunterhalt zusammen?«
    »Ja, aber ich weiß nicht, ob man das noch Leben nennen kann«, sag te Byron, der indessen seine Skizze ausgerichtet und sich orientiert hatte. »Und jetzt lasst uns gehen! Diese Abwasserröhre muss uns in den Ottakringer Bachkanal führen und von dort durch einen weite ren, größeren Sammelkanal zu jener Halle am Überflusswehr brin gen, wo Mortimer Pembroke den ersten Hinweis auf das Versteck der Papyri hinterlassen hat!«
    »Hoffentlich taugt Ihre Skizze was«, sagte Alistair. »Ich kriege ja jetzt schon Platzangst, wenn ich mir diese enge und stinkende Röhre nur ansehe, und ich will erst gar nicht daran denken, was uns hier un ten erwartet, falls wir uns verirren!«
    Byron ersparte sich eine Erwiderung. Auch ihm fiel es nicht leicht, sich in diese unbekannte und bedrohlich wirkende Welt der Abwas serkanäle zu wagen. Aber es musste getan werden, wenn sie das Ver steck der Judas-Papyri finden wollten. Und so packte er den Bügel seiner Lampe mit festem Griff, bückte sich und trat

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