Die Judas-Papiere
waren nur auf einen Kanalstrotter gestoßen, der in dem Strandgut der Großstadt nach Knochen und Fettstücken suchte. Seine Laterne hatte er vermutlich ausgeblasen, als er ihren mehrfachen Lichtschein gesehen hatte. Vielleicht brannte sie aber auch mit weit heruntergedrehtem Docht hinter der Biegung des Sei tenkanals und ihnen war im Schein der eigenen Lampen der fremde Lichtschimmer entgangen.
»Das will dir auch keiner von uns streitig machen. Aber dennoch bist du gut beraten, uns nicht zu folgen, wenn du dir keinen Ärger einhandeln willst, Schindler Josef!«, rief Horatio ihm warnend zu.
»J-j-ja, Herr . . . Ich m-m-meine, nein, Herr!«, versicherte der Strot ter ängstlich und verschwand augenblicklich wieder im Seitenkanal, aus dem er aufgetaucht war.
Sie setzten ihren Gang fort. Es war kalt und zugig. Und dann sahen sie endlich vor sich, wonach sie gesucht hatten: die Halle mit dem Überlaufwehr!
10
H inter der Mündung des Ottakringer Bachkanals in den Sammelka nal der Wien weitete sich das unterirdische Gewölbe zu einer Halle mit beachtlicher Deckenhöhe. Mehrere andere Zuflüsse strömten an diesem Ort zusammen. Und über das breite, rund gemauerte Wehr, das hinter dem Bachausgang zu ihrer Linken lag, stürzten schäumen de Regenfluten gute zwei, drei Meter in die quirlende Tiefe. Mehrere Gitterstege mit Eisengeländern führten über die einzelnen Zuflüsse und verbanden die einzelnen Teile der umlaufenden Galerie.
»Hat jemand eine Ahnung, nach was für einer Art von Menetekel wir hier suchen sollen?«, fragte Alistair.
»Es muss irgendeine Art von Schrift sein«, rief Byron ihm zu. »Es kann sich aber auch um Zahlen, Symbole oder andere Zeichen han deln. Denn das biblische Menetekel musste auch erst entschlüsselt werden, bevor man die Botschaft lesen konnte. Aber es wird uns schon ins Auge springen!«
Sie verteilten sich, um die Wände der Halle nach dem Menetekel abzusuchen.
Es war Byron, der schon nach wenigen Schritten auf Mortimer Pembrokes Hinweis stieß.
»Hier ist es!«, rief er seinen Gefährten zu. »Es ist eine lange Reihe von zweistelligen Zahlen, die er ins Mauerwerk geritzt hat!«
»Also noch ein Rätsel!«, rief Horatio zurück. »Wie reizend!«
»Aber kein allzu schwer zu entschlüsselndes, wenn mich mein ers ter Eindruck nicht trügt«, erwiderte Byron, stellte seine Lampe ab und zog sein grünes Notizbuch sowie einen Bleistift aus der Innenta sche seiner Jacke.
Alistair und Horatio waren Augenblicke später an seiner Seite. Har riet ließ sich dagegen Zeit, um zu ihnen herüberzukommen. Sie hielt schon mal Ausschau nach einem Ausstieg.
Schnell hatte Byron die Zahlen notiert. Gerade überprüfte er seine Abschrift noch einmal, als ein kurzer schriller Aufschrei, der von Har riet kam, die drei Männer zusammenfahren ließ.
Erschrocken fuhren sie herum.
Im selben Augenblick rief ihnen eine Männerstimme zu: »Keiner rührt sich von der Stelle oder ich schneide ihr die Kehle durch!«
Entsetzt starrten Byron, Horatio und Alistair zu Harriet hinüber. Sie stand auf der anderen Seite zwei Schritte vor dem Gittersteg, der einen der breiteren Zuflüsse überspannte. Ein Mann von untersetz ter Gestalt und mit einer Schirmmütze hatte seine linke Hand in ihr Haar gekrallt, ihr den Kopf weit nach hinten in den Nacken gezerrt und ihr die Klinge eines Klappmessers an die Kehle gesetzt.
»Das ist der Kerl, den ich auf der Fähre und am Bahnhof gesehen habe!«, stieß Horatio grimmig hervor. »Nur mit Nasenkneifer und Schnurrbart! Aber das war wohl bloß Tarnung!«
»Verdammt!«, fluchte Alistair. »Wir hatten also beide recht gehabt, dass wir verfolgt wurden! Die Schirmmütze saß uns die ganze Zeit im Nacken!«
»Rückt das grüne Notizbuch von Mortimer Pembroke heraus und eurer Kleinen hier wird nichts geschehen!«, befahl der Fremde. »Los, du da mit dem Notizbuch in der Hand! Komm auf die Gitterbrücke und wirf das Journal dort auf den Gehsteg des Seitenkanals! Und die beiden anderen gehen gefälligst ein paar Schritte nach hinten zu rück! Na los, bewegt euch!«
»Gebt es ihm nicht!«, rief Harriet ihnen tapfer zu, doch ihre Stimme zitterte dabei hörbar. »Dieser Schweinehund wird es nicht wagen, mir etwas anzutun! Er muss ein Dummkopf sein, wenn er glaubt, euch entkommen zu können!«
»Du irrst! Und jetzt her mit dem Notizbuch!«, gellte der Fremde und machte mit dem Messer eine drohende Bewegung.
»Macht schon, was er verlangt!«, sagte Byron zu Horatio und Alis tair,
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