Die Judas-Papiere
mit Zeichnungen von Spielkarten gefüllt hat. Da habe ich mir die se Seiten eben gleich mal näher angesehen.«
Harriet warf ihm einen kecken Blick zu. »Du bist ja ein richtig helles Köpfchen, Alistair!«
»Und was ist Ihnen dabei aufgefallen?«, fragte Byron etwas säuer lich, weil Alistair ihn mit seinen Entschlüsselungsfähigkeiten ja gera dezu in den Schatten stellte.
»Ich weiß nicht, wie viel Sie vom Kartenspiel verstehen, insbesonde re von den verschiedenen Formen des Pokerspiels«, sagte Alistair, »aber seit einigen Jahren wird Poker, vor allem die aus den USA stam mende Variante Texas Hold’em, mit einem 52er-Blatt gespielt, also mit viermal dreizehn Karten von der Zwei bis zum Ass. Und was die Wer tigkeit der Farben betrifft, so gilt die aufsteigende Reihenfolge Kreuz, Karo, Herz, Pik. Die höchste Karte ist also Pikass und die niedrigste Kreuz-Zwei.«
»So weit können wir Ihnen noch folgen, auch wenn wir nicht unser halbes Leben am Spieltisch verbracht haben«, sagte Horatio mit tro ckenem Spott.
»Byron hätte den Code vermutlich noch schneller geknackt als ich«, fuhr Alistair fort. »Ja, wahrscheinlich wäre mir gar nichts an diesen vie len Kartenbildern aufgefallen, wenn er uns nicht die Sache mit den Substitutionen und den 5x5-Quadraten erklärt hätte. So aber bin ich stutzig geworden, als ich die Kartenwerte durchging und feststellte, dass Mortimer nur Karten in den Farben Pik und Herz gezeichnet hat.«
Byron begriff sofort. »Und da es in solch einem Spiel von jeder Far be dreizehn Karten gibt, ergeben beide zusammen sechsundzwan zig verschiedene Werte. Und das deckt exakt die Zahl der Buchsta ben im Alphabet ab!«
»Genau!«, bestätigte Alistair. »Mit diesem Gedanken im Kopf habe ich dann nachgezählt, welche Karte am häufigsten auf diesen Seiten zu sehen ist. Das war die Pik-Zehn, gefolgt von der Pik-Sechs und von Herzass. Und da wir von Byron ja gelernt haben, dass in einem Text am häufigsten das e vorkommt, gefolgt von n und i, lag der Schluss nahe, dass Mortimer das Alphabet auf die Werte der Karten verteilt hat – und dass die Pik-Zehn für das e, Herzass für das n und Pik-Sechs für das i steht. Und im Handumdrehen hatte ich den Code auf diesem Zettel hier aufgelistet.«
»Und was für ein Rätselspruch kam bei der Entschlüsselung heraus?«, wollte Harriet erwartungsvoll wissen.
Alistair drehte den Zettel mit dem Karten-Alphabet um. »Die fol gende Nachricht: Such in der Kehle des Propheten Stimme, die zwischen Skutari und Galata in Ahmet Murats Sans Mekani zur Ruhe kam. So, und jetzt sind Sie an der Reihe, um den Rest dieses Rätsels zu lösen, By ron! Haben Sie eine Ahnung, was mit Sans Mekani, Galata und Skuta ri gemeint sein könnte und zu welchem Ort diese Bezeichnungen uns führen wollen?«
»Mehr als nur eine Ahnung«, sagte Byron. »Ich weiß sogar genau, was damit gemeint ist. Denn Sans Mekani ist Türkisch und bedeutet so viel wie ›Haus des Glücks‹. Und während Galata ein überwiegend von Europäern besiedelter Stadtteil von Konstantinopel ist, gehört der Ort Skutari zum gegenüberliegenden asiatischen Ufer des Bos porus. Rätselhaft ist mir nur, wo sich dort dieses Haus des Glücks be finden soll. Denn Galata und Skutari werden durch die breite Meer enge getrennt, die das Schwarze Meer mit dem Marmarameer ver bindet. Zwischen diesen beiden Orten ist nichts als Wasser. Und meines Wissens gibt es dort bis auf den Felsen mit dem Leuchtturm nicht einmal kleine Inseln, die groß genug wären, um darauf ein Haus errichten zu können.«
»Was immer auch mit diesem Spruch gemeint sein mag, so bedeu tet er doch wohl zumindest, dass wir nach dem Besuch bei Graf Ko vat nach Konstantinopel müssen, dem einstigen Byzanz am Golde nen Horn!«, folgerte Horatio.
Byron nickte. »Und da die einzig vertretbare Reiseroute zur Burg Negoi in den Karpaten uns zwangsläufig über Bukarest führt und Lord Arthur uns großzügige Reisespesen gewährt hat, dürfte es das Vernünftigste sein, wenn wir für die Strecke Wien-Bukarest-Kon stantinopel den Orient-Express nehmen!«
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A uf dem Plattenteller des Grammofons mit dem blank polierten, sich weit öffnenden Schalltrichter drehte sich eine auf Schellack ge presste Aufnahme von Giuseppe Verdis Oper Aida. Die Musik erfüllte den Raum, der nach Waffenöl, Putzwolle und kaltem Stahl roch.
Auf der Werkbank der Waffenkammer von Pembroke Manor lagen auf alten Tüchern eine schwere englische Jagdbüchse mit doppeltem Lauf und
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