Die Judas-Papiere
ein deutsches Repetiergewehr von Sauer & Sauer. Die Schrotflinte der deutschen Waffenschmiede, deren Lauf aus Sie mens-Martin-Stahl gearbeitet war und die neuartige Patronen mit rauchschwachem Pulver verschoss, war zweifellos die modernere und vorzüglichere Jagdwaffe. Aber dennoch schätzte Arthur Pem broke kein Gewehr aus seinem umfangreichen Waffenarsenal mehr als die Büchsflinte mit den brünierten Doppelläufen der Firma Anson & Deeley, die über einen glatten und einen gezogenen Lauf verfügte – und die schon so manches edle Wild erlegt hatte.
Die Büchsflinte war die Lieblingswaffe ihres Vaters gewesen und hatte nach dessen Tod Arthurs ältestem Bruder Wilbur gehört. Die ser hatte sie jedoch nicht in Ehren gehalten und deshalb war es nur gerecht, dass das Letzte, was Wilbur in seinem Leben gesehen hatte, der Doppellauf dieser Waffe gewesen war. Nie würde Arthur Pem broke vergessen, wie verblüfft sein Bruder in der letzten Sekunde vor seinem jähen Tod in die Mündung der Flinte geschaut hatte.
Lord Arthur strich fast zärtlich mit dem öligen Lappen über den Zwillingslauf. Und er war so sehr in Gedanken versunken, dass er das Anklopfen seines Butlers auch dann nicht gehört hätte, wenn die fu riose Arie von Amonasro, des gefangenen Königs der Äthiopier und Aidas Vater, nicht mit voller Lautstärke aus dem Trichter des Gram mofons geschallt wäre.
Dass er in der geräumigen Waffenkammer nicht länger allein war, bemerkte er erst, als diese Arie, in der Amonasro den ägyptischen König um die Freilassung der Gefangenen bittet, jäh abbrach. Über rascht wandte er sich im Rollstuhl um, legte die Stirn in Falten und fragte leicht verdrossen: »Was gibt es so Wichtiges, dass Sie Amonas ro und damit auch dem genialen Verdi ins Wort zu fallen wagen, Tre vor?«
»Entschuldigen Sie, Mylord, aber ich dachte, Sie wollten hiervon sofort Kenntnis erhalten«, antwortete der asketisch hagere Butler, der in seiner weiß behandschuhten Hand ein kleines Silbertablett hielt. »Das erste Telegramm ist eingetroffen – aus Wien, Mylord.«
Augenblicklich verschwand der ungehaltene Ausdruck auf Lord Arthurs Gesicht. »Prächtig! Unsere wachsamen Augen und Ohren melden sich endlich!«, rief er. »Nun machen Sie schon auf und lesen Sie vor, Trevor! Sie sehen doch, dass ich ölige Finger habe!«
»Sehr wohl, Mylord.« Der Butler setzte das Tablett ab, nahm das dreifach gefaltete Telegramm, riss es auf und las die Nachricht vor.
Arthur Pembroke lächelte zufrieden. »Der erste Hinweis auf das Versteck lautet also Des Judas Schriften ruhen unter Ruinen. Nun, viel ist das ja nicht, aber das war auch nicht zu erwarten gewesen. Das nächste Telegramm dürfte mehr bringen und mir einen Hinweis ge ben, ob ich mit meiner Vermutung richtig liege. Und da ihre nächs ten beiden Stationen also die Karpatenburg von Graf Kovat und Ah met Murats Haus des Glücks in Konstantinopel sind, wird wohl erst aus Bukarest oder Konstantinopel mit dem nächsten Kabel zu rech nen sein.«
»Ja, das ist anzunehmen, Sir«, pflichtete Trevor Seymour ihm bei und erkundigte sich dann, was mit dem Telegramm zu geschehen habe.
»Was schon, Trevor? Werfen Sie es ins Feuer! Und legen Sie die Na del wieder auf, bevor Sie gehen!«, wies Lord Pembroke ihn an und wandte sich wieder der doppelläufigen Büchsflinte zu.
In der Nacht desselben Tages klingelte wieder einmal das Telefon in einem stattlichen Bürgerhaus im Londoner Stadtteil Kensington. Und eine dem Hausherrn vertraute Stimme meldete sich wie ge wöhnlich mit dem Losungswort.
»Similitudo . . .«
». . . Dei«, antwortete der Angerufene.
»Sie setzen die Reise fort, Abbot. Mit dem Orient-Express erst nach Bukarest, wo sie einen gewissen Graf Kovat auf dessen Burg Negoi in den Karpaten aufsuchen werden, und dann nach Konstantinopel.«
»Und wann genau steigen die vier in den Orient-Express?«
»Schon morgen Abend, Abbot. Ich weiß, die Nachricht kommt spät. Aber das Telegramm ist erst heute am späten Nachmittag auf Pem broke Manor eingetroffen.«
»Seien Sie unbesorgt. Wir werden tun, was in unserer Macht steht, und ihnen wie die Wölfe im Nacken sitzen!«
Vierter Teil
Der steinerne Tag
1
D er weiße Kastenwagen, auf dessen Längsseiten in grüner Farbe und mit goldgeränderten Buchstaben Hotelwäscherei Döbling & Stiegel geschrieben stand, rumpelte über das Kopfsteinpflaster der Tannen gasse.
Der Kutscher Julius Höpfner war an diesem frühen Abend von sei ner üblichen Route
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