Die Judas-Papiere
abgewichen, die ihn gewöhnlich vom Ladehof des Bristol zur Wäscherei im Stadtteil Mariahilf führte. Er hatte einen weiten Bogen um sein eigentliches Ziel geschlagen. Der Umweg hat te ihn durch den Bezirk Josefstadt und bis in die Nähe der Radetzky-Kaserne in Ottakring geführt. Dann war er mit seinem Gespann am Schmelzer Friedhof und auf der Rütteldorfer Straße noch ein Stück weit am kaiserlich-königlichen Exerzierplatz vorbeigezuckelt, bevor er nach links in die kurze Tannengasse abgebogen war.
Byron und seinen Gefährten machte das Gerüttel nichts aus, saßen sie doch sehr weich auf den dicken Säcken, die mit Hotelwäsche gefüllt waren. Nicht ganz so angenehm war die muffige Luft im Innern des Kastenwagens und dass sie einander kaum erkennen konnten. Denn außer der kleinen Sichtluke in der Tür hinten gab es keine Öffnung, die Licht und frische Luft in das Innere hätten dringen lassen können.
»Nicht zu fassen! Es schneit, wie man es uns vorausgesagt hat!«, sagte Harriet, die nahe der Sichtluke saß und Schneeflocken am Fenster vorbeitreiben sah.
Horatio zuckte die Achseln. »Und wennschon. Der Orient-Express ist ein Palast auf Rädern, der sicherlich auch gut geheizt ist.«
»Ja, aber wir haben auf dem Weg nach Bukarest auch einige Bergre gionen zu durchqueren«, gab Byron zu bedenken. »Und wenn es in diesen Höhen bei heftigem Schneefall zu Verwehungen kommt, kön nen auch die Räder eines solchen Luxuszuges stecken bleiben.«
»Ach was! Ein paar frühe Schneeflocken sind doch kein Grund, schon gleich das Schlimmste zu befürchten«, kam es von Alistair aus dem Halbdunkel. »Und jetzt sollten wir allmählich ausknobeln, wer von uns das Vergnügen hat, sich mit Harriet ein Zugabteil zu teilen.«
»Von wegen ausknobeln! Die Entscheidung liegt allein bei Har riet!«, stellte Byron sofort klar. Als er in der Agentur Thomas Cook & Son am Stephansplatz die Tickets für ihre Reise mit dem Orient-Ex press nach Konstantinopel über Bukarest gekauft hatte, waren nur noch zwei Doppelabteile frei gewesen. Und keiner von ihnen hatte Lust gehabt, noch mehrere Tage in Wien zu bleiben und auf den nächsten Zug zu warten. Denn der Orient-Express fuhr nur zweimal die Woche auf dieser Route.
»Das will ich wohl meinen!«, sagte Harriet mit Nachdruck.
»Na, dann sag uns, auf wen deine Wahl fällt, holde Harriet!«, forder te Alistair sie halb spöttisch, halb werbend auf. »Mir wird es ein Ver gnügen sein, dich als meine frisch angetraute Frau auszugeben, um der gebotenen Schicklichkeit Genüge zu tun. Ich denke, wir beide geben ein hübsches Paar ab. Also, was meinst du? Ich verspreche dir auch, dass du dir das beste Bett aussuchen und immer zuerst in das Waschkabinett darfst. Und natürlich werde ich die Tugendhaftigkeit in Person sein!«
Horatio lachte trocken auf. »Weißt du überhaupt, wie Tugendhaf tigkeit buchstabiert wird?«, frotzelte er.
»Vorsicht, mein Herr Kopist!«, protestierte Alistair. »Sie wagen sich da auf dünnes Eis!«
»Danke für das reizende Angebot, Alistair«, sagte Harriet. »Aber auf die pikante Rolle, die du mir zugedacht hast, möchte ich doch lieber verzichten. Ich werde mir mit Byron ein Abteil teilen.«
Dass Harriet sich für ihn entschieden hatte, versetzte Byron einen freudigen Stich. Irgendwie hatte er insgeheim gehofft, dass ihre Wahl auf ihn fallen würde, aber vermutet, dass sie Alistair den Vor zug geben würde. Allerdings mischte sich jetzt seine Freude so gleich mit Unbehagen. Bisher war er nämlich immer am besten damit gefahren, Frauen gegenüber sein Herz verschlossen zu halten und si chere Distanz zu wahren.
»Ich ahnte schon, dass der bittere Kelch nicht an mir vorübergehen und ich Alistair als Bettgenossen erhalten werde«, sagte Horatio mit einem schweren Seufzer.
»Übrigens werde ich nicht als Byrons Ehefrau reisen, sondern als seine Schwester«, fügte Harriet nun hinzu.
»Und warum Byron?«, fragte Alistair verdrossen.
»Aus demselben Grund, aus dem Lord Pembroke ihm das ganze Geld schon vor Antritt der Reise gezahlt hat, mein Lieber«, sagte Har riet forsch. »Weil er nämlich ein Gentleman ist und weiß, wie er sich gegenüber einer Frau zu verhalten hat, die sich gezwungen sieht, ein Abteil mit einem Mann zu teilen, mit dem sie weder verheiratet noch liiert ist.«
»Was soll das heißen? Dass ich kein Gentleman bin und nicht weiß, wie . . .«, setzte Alistair zu einem entrüsteten Protest an.
»Das soll heißen, dass ich mir bei dir nicht
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