Die Judas-Papiere
und übersetzt habe: Du wirst der Drei zehnte werden und du wirst verflucht werden von den kommenden Genera
tionen und du wirst kommen, um über sie zu herrschen. In den letzten Ta gen werden sie deine Erhebung in das Geschlecht der Heiligen verfluchen.
Und dass mit dem Dreizehnten allein Judas gemeint sein kann, da er nach seiner Tat ja aus dem Kreis der Jünger ausgestoßen und durch einen neuen zwölften Jünger ersetzt wurde, dürfte wohl außer Frage stehen.«
»Judas Iskariot soll der Auserwählte Jesu sein? Ein Heiliger, der kommt, um zu herrschen?«, fragte Alistair ungläubig. »Aber das ist doch ausgemachter Blödsinn!«
»Dass Jesus ausgerechnet Judas erwählt und ihn in das Geschlecht der Heiligen erhoben haben soll, kann auch ich nicht glauben«, pflichtete Harriet ihm bei.
»In den Evangelien steht doch klipp und klar, dass er ein Schuft und Verräter war, der sich seinen Verrat gut bezahlen ließ!«, fügte Alistair noch hinzu. »Ich bin zwar nicht bibelfest und gebe auch nicht gerade viel auf das Neue Testament, aber so viel ist mir in den Waisenhäu sern doch von der Frohen Botschaft eingeprügelt worden, um das zu wissen!«
»Gemach, Freunde! So einfach, wie man glauben könnte, ist die Sa che mit Judas Iskariot in den Evangelien wahrlich nicht!«, wider sprach Byron sofort.
»So? Wie ist die Sache denn?«, fragte Alistair skeptisch.
»Erst einmal wird Judas in den Evangelien nur an sehr wenigen Stel len erwähnt, und wenn, dann erscheint er in der Aufzählung der Jün ger immer am Schluss«, erklärte Byron. »Anders als in den drei synop tischen Evangelien, also bei Matthäus, Markus und Johannes, ist Lu kas der Einzige, der Judas Iskariot eindeutig als Verräter tituliert, und zwar in Kapitel 6, Vers 16. Dagegen sprechen Matthäus und Mar kus nur davon, dass er ihn auslieferte!«
»Da sehe ich aber keinen nennenswerten Unterschied«, hielt Alis tair sofort dagegen. »Ob da nun ausliefern oder verraten steht, ist doch ein und dasselbe!«
»Keineswegs«, erwiderte Byron. »Eine Auslieferung ist nun mal nicht gleichbedeutend mit Verrat aus Eigennutz. Zudem kann doch nur von Verrat gesprochen werden, wenn der, um den es dabei geht, von dem Verrat nichts weiß. Doch in allen drei synoptischen Evange lien findet sich beim letzten Abendmahl die sehr prägnante Stelle, in der Jesus klar und deutlich sagt, dass einer der zwölf ihn ausliefern wird. Das Wort Verrat benutzt er nicht. Er weiß also sehr wohl um das künftige Geschehen, das mit seiner Kreuzigung enden wird.«
»Und wennschon«, brummte Alistair, wenn auch etwas kleinlaut.
»Und was ist mit Johannes?«, wollte Harriet wissen. »Wie steht er zu dem Jünger Judas Iskariot? Helfen Sie meinem verblassten Wissen von der Sonntagsschule auf die Sprünge, Byron!«
Byron kam ihrer Aufforderung gern nach. »Johannes zeigt ein viel größeres Interesse an der Person des Judas. Bei ihm tritt er auch nicht erst auf, als Jesu Leidensgeschichte beginnt, sondern schon viel früher, nämlich in Kapitel 6, als sich die Gruppe in einer Krise befin det, weil Jesus sich als das vom Himmel herabkommende Brot be zeichnet hat. In dieser Szene . . .«
»Warten Sie mal!«, unterbrach ihn Horatio. »Da ist mir gerade et was eingefallen. Wenn Jesus Gottes Sohn ist, dann verfügte er doch auch über die Allwissenheit Gottes und wusste schon alles, was ihm auf Erden widerfahren würde, im Voraus.«
Byron nickte ihm anerkennend zu. »Da haben Sie den Finger auf eine der heikelsten theologischen Fragen gelegt. Wenn Jesus wirklich allwissend gewesen ist, würde sein Tod ja seine heilbringende Kraft verlieren. Denn wer vor seinem Tod schon weiß, dass er drei Tage nach seiner Kreuzigung auferstehen wird, der stirbt nun mal nicht den gewöhnlichen menschlichen Tod im Glauben an die Macht und Barmherzigkeit Gottes, der ihn zu neuem Leben erwecken und zu sich ins Himmelreich holen wird.«
»Da haben wir es!«, sagte Alistair mit hörbarer Genugtuung.
»Ich bin sicher, dass Byron auch darauf eine Antwort weiß, die dir weniger gefallen dürfte«, sagte Harriet. »Also, womit durchschlagen Sie diesen gordischen Knoten der Theologie?«
Byron lächelte ihr kurz zu, dankbar für das Vertrauen, das aus ihren Worten sprach. »Mit der Erklärung des Konzils von Chalkedon im Jahre 451 nach Christi Geburt. Schon damals hat man sich mit genau diesem dogmatischen Problem befasst. Und die frühen Theologen erinnerten daran, dass in Jesus zwei vollständige Naturen vereint
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