Die Judas-Papiere
sind, nämlich die göttliche und die menschliche – und zwar ›unver mischt‹, wie in der Erklärung nachdrücklich betont wird. Die rein göttliche Allwissenheit zur Zeit seines Erdenlebens wird ausge schlossen, weil ein vollkommen umfassendes Wissen nicht vereinbar wäre mit der menschlichen Natur, die nun mal in allem begrenzt ist. Es ist deshalb stets die Überzeugung der großen Theologen und Kir chenväter gewesen, dass Jesus genauso das Weltbild seiner Zeit teil te wie das begrenzte Wissen eines jeden Menschen. Wir dürfen in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, dass Jesus nicht nach Jerusalem ging, weil es ihn drängte, endlich gekreuzigt zu werden, sondern weil er auch dort Gottes Wort verkünden wollte. Erst nach den feindlichen Reaktionen der Hohepriester auf seine Säuberung des Tempels hin hat er wohl geahnt, dass man ihm nach dem Leben trachtete und er mit dem Schlimmsten rechnen musste. Wer weiß, vielleicht wird man aus jenem bislang verschollenen Evangelium Neues über die Rolle des Judas bei diesen Ereignissen erfahren. So fern es wirklich vom Jünger Judas Iskariot verfasst worden ist.«
Alistair sah alles andere als überzeugt aus. »Was Sie da über die unvermischten Naturen im angeblichen Gottessohn Jesus gesagt ha ben, das klingt mir doch zu sehr nach theologischer Haarspalterei und nicht nach einer plausiblen Erklärung!«
Byron zuckte die Achseln. »Ich sehe mich in diesen Dingen keines wegs als Missionar, der Sie bekehren will, Alistair. Zudem: Wenn wir von Gott sprechen, dann ist grundsätzlich alles, was wir darüber wis sen und sagen können, nur äußerst notdürftig. Sozusagen geistige Krücken, die uns nur humpeln lassen und nicht sehr weit bringen. Gott und sein Wesen sind für uns Menschen weder fassbar noch er klärbar, sonst wäre er auch nicht Gott, sondern nur ein billiger Göt ze. Alle noch so ehrgeizigen Bemühungen, uns Gott mit dem Ver stand zu nähern, scheitern früher oder später an einer Grenze, lange bevor wir dem Göttlichen auch nur nahegekommen sind. Gott ent hüllt sich einem nur im Glauben und Gebet und die Voraussetzung dafür ist ein für Gott bereitwillig geöffnetes Herz. In eine Hand, die abwehrend zu einer Faust verschlossen ist, lässt sich nichts hineinle gen. Mit dem Glauben verhält es sich nicht anders, sonst würden wir es auch nicht Glauben nennen, sondern nachprüfbares und immer wieder neu beweisbares Wissen.«
»Amen«, murmelte Harriet, doch es klang gar nicht spöttisch, son dern vielmehr nachdenklich.
Alistair runzelte die Stirn. »Na, dann noch weiter viel Vergnügen mit dem Entziffern von Mortimers aramäischen Kritzeleien«, sagte er und verschwand wieder aus dem Abteil.
Von draußen vernahmen sie nun eine Frauenstimme, die auf dem Korridor des Schlafwagens jemandem aufgeregt zurief: »Da sind sie, James! Die Karpaten! Jetzt ist es nicht mehr weit bis zum Eisernen Tor!«
6
D er Orient-Express dampfte mit voller Kesselleistung durch die Vorber ge der Transsylvanischen Alpen, wie die Gebirgskette zwischen Sieben bürgen und Rumänien auch genannt wurde. Das heftige Schneetreiben ließ rechtzeitig genug nach, damit den Reisenden ein Blick auf die wild zerklüfteten und schneebedeckten Bergketten vergönnt war.
Je höher der stählerne Strang der Gleise führte, desto langsamer wurde der Zug. Bald kroch er gerade mal in gemächlichem Schritt tempo die gewundenen Steigungen hinauf. Etwa zwei Stunden vor Bukarest erreichte er schließlich den Pass mit dem berühmten Eiser nen Tor. Dabei handelte es sich um eine dunkle, enge Schlucht zwi schen dem Südende der Karpaten und der Miroc-Kette des Balkange birges. Dieser schmale Durchlass verdankte seinen Namen massiven Felsblöcken, die wie aus Eisen geschmiedet wirkten und zum Teil hoch aus den Fluten der reißenden Donau aufragten.
Mit einer Mischung aus Faszination und Beklemmung standen die Zuggäste an den Fenstern, viele der Männer mit einem Glas Sli bowitz in der Hand, und nahmen den wildromantischen Anblick in sich auf. Auf den Gesichtern der Frauen fand sich manch angstvoller Ausdruck, als sie sahen, wie nahe die Strecke am Wasser vorbeiführ te und dass der Schienenstrang teils nur auf Felspfeilern ruhte, die man aus der steil aufragenden Wand herausgesprengt hatte. Angst machte auch das besorgniserregende Rütteln und Wanken der Wa gen, wenn der Zug über Stellen rumpelte, wo die Strecke gefährlich unterspült worden war und sich der Boden nach einer hastigen Aus besserung
Weitere Kostenlose Bücher