Die Judas-Papiere
ihnen für Recht und Ordnung sorgt!«
Nach einigen sonnigen klaren Morgenstunden zogen schon gegen Mittag erneut graue, tief hängende Wolken auf und dann setzte auch schon bald wieder heftiger Schneefall ein, hinter dessen weiß wir belndem Vorhang die Landschaft zu einem konturlosen Bild ver schwamm.
Am frühen Nachmittag öffneten sie die Verbindungstür zwischen den Abteilen und verwandelten sie in einen kleinen, aber überaus gemütlichen Privatsalon, in den sich Byron und Horatio zurückzo gen. Ihnen war nach einigen ruhigen Stunden fern der illustren Ge sellschaft zumute, die den Speisewagen sowie die beiden Salons be völkerte. Alistair saß wieder beim Spiel, während Harriet sich zu den Frauen im Boudoir gesellt hatte.
Weder Horatio noch Byron stand der Sinn nach Geselligkeit und Unterhaltung. Sie wussten sich anderweitig zu beschäftigen, Horatio mit dem Anfertigen einiger Landschaftsskizzen und Byron mit dem Studium von Mortimers Notizbuch. Das beiderseitige Schweigen war ihnen willkommen und verband sie mehr, als Worte es vermocht hätten.
Nach einer Weile schauten dann aber auch Harriet und Alistair, der genüsslich von einer einträglichen Glückssträhne berichten konnte, bei ihnen herein.
»Sind Sie schon wieder beim Entschlüsseln eines Codes?«, erkun digte sich Harriet, als sie Mortimers aufgeschlagenes Notizbuch auf dem Klapptisch liegen und Byron etwas in eines seiner eigenen No tizbücher schreiben sah.
»Nein, das Kopfzerbrechen verschiebe ich auf später. Je weiter man in Mortimers Journal kommt, desto wirrer und anstrengender ist es, den Tand vom Gold zu trennen. Und ehrlich gesagt, will ich mich jetzt da nicht hindurchquälen. Im Augenblick interessiere ich mich mehr für die aramäischen Kritzeleien, die Mortimer überall auf den Seiten verteilt hat«, sagte Byron. »Ich vermute nämlich, dass es sich dabei um Stellen aus den Judas-Papyri handelt, die er da in sein No tizbuch übertragen hat.«
Horatio horchte auf und ließ seinen Zeichenblock sinken. »Und wo rauf gründen Sie Ihre Vermutung?«, erkundigte er sich interessiert.
»Auf Stellen wie diese hier«, antwortete Byron und las einiges von dem vor, was er in den vergangenen anderthalb Stunden mühsam entziffert und übersetzt hatte. » Ich weiß, wer du bist und woher du kommst. Du gehörst zum unsterblichen Äon des Barbelo. Ich bin nicht wür dig, den Namen dessen auszusprechen, der dich gesandt hat. Hier scheint Judas zu Jesus zu sprechen und der Verfasser lässt ihn bei diesem Be kenntnis sehr johanneisch sprechen. Denn bei Johannes in Kapitel 8, Vers 28 sagt Jesus recht ironisch zu seinen Jüngern: Ihr kennt mich und wisst, woher ich komme. Und ich bin nicht von mir aus gekommen, sondern wahrhaftig ist der, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt. «
Alistair, der an der Zwischentür lehnte, zog die Stirn kraus. »Also, ich verstehe weder diese angebliche Ironie, die da im Johannes-Vers stecken soll, noch habe ich auch nur einen blassen Schimmer, wovon Judas da redet. Mit dem unsterblichen Äon des Barbelo kann ich nichts anfangen. Du etwa, Harriet?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Barbelo ist das Abbild des Unsichtbaren, des vollkommenen Glan zes des Lichts, und stellt die weibliche Komponente des Göttlichen dar«, erklärte Byron.
»Weibliche Komponente des Göttlichen? Na, das ist doch mal was Erfreuliches, was Judas da von sich gibt!«, sagte Harriet. »Der Bursche wird mir sympathisch!«
»Zum Äon des Barbelo wäre natürlich noch einiges mehr zu sagen, aber das ist zu kompliziert, um es auf die Schnelle auszuführen«, wandte Byron ein. »Aber hier, dieses andere aramäische Zitat, ist er heblich eindeutiger in seiner Aussage. Zweifellos spricht hier Jesus zu Judas und prophezeit ihm: Trenne dich von ihnen und ich werde dir die Geheimnisse des Reiches mitteilen. Du kannst dorthin gelangen, aber durch großes Leiden. Denn ein anderer wird dich ablösen, damit die zwölf wieder vollständig mit ihrem Gott werden. Damit sagte Jesus unmissver ständlich, dass Judas derjenige der zwölf Jünger ist, der der Empfän ger der ungeteilten Wahrheit ist, während die anderen in ihrem Irr tum verharren.«
»Haben Sie noch so eine . . . äh, verrückte Stelle gefunden?«, fragte Horatio.
Byron nickte. »In der Tat, das habe ich, und zwar versteckt zwi schen all den Zeichnungen der Irrgärten und Labyrinthe. Sie ist sogar die erstaunlichste und geheimnisvollste Stelle, lautet sie doch, so fern ich es richtig entziffert
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