Die Judas-Papiere
noch nicht wieder gesetzt hatte. Mehrmals hielt der Zug sogar an, wenn der Lokomotivführer den Verdacht hegte, die Stre cke vor ihm wäre abgesackt oder die Ausläufer einer Steinlawine be drohten den Zug mit Entgleisung.
Aber endlich lag die gefährliche Strecke hinter ihnen, und während der Zug nun wieder über das ebene Gelände der Walachei und mit erhöhter Geschwindigkeit Bukarest entgegendampfte, wurde im Speisewagen ein frühes Abendessen serviert.
Indessen rollte der Orient-Express mit dem mittlerweile vertrauten, gedämpften Rattern in die Abenddämmerung hinein. Flackernde Pechfeuer, die in regelmäßigen Abständen entlang des Schienen strangs in verbeulten Eisentonnen loderten, begleiteten seinen Weg in die rumänische Hauptstadt.
Einige Stunden nach Einbruch der Dunkelheit lief der Zug in den Bahnhof von Bukarest ein, wo er exakt zehn Minuten Aufenthalt hat te. Der Hauptbahnhof lag in einer tristen Vorstadt und spiegelte trotz seiner Fassadenverzierungen und Kuppeln den provinziellen Charakter der Stadt wider, die Basil Sahar eine Ansammlung von schäbigen Häusern, schäbigen Läden und mit Abfall übersäten schä bigen Straßen nannte.
Der Waffenhändler ließ es sich nicht nehmen, sich auf dem zugi gen Perron noch einmal wortreich bei Harriet für ihr beherztes und geistesgegenwärtiges Eingreifen zu bedanken.
»Nehmen Sie hier Quartier im Grand Hotel Boulevard und lassen Sie sich von den durchtriebenen Schleppern und Droschkenkutschern bloß keine andere Unterkunft aufschwatzen!«, riet er ihnen eindring lich. »Zwar steht der hochtrabende Name in keinem Verhältnis zu dem, was das Hotel zu bieten hat. Aber eine bessere Unterkunft gibt es derzeit leider nicht in Bukarest. Und es liegt zentral in der Stadtmit te auf dem Boulevard Elisabeta. Das Hotelrestaurant sollten Sie je doch tunlichst meiden. Gehen Sie zum Essen ins Jordache auf der Stra da Covaci Numero 3 oder in das Enache auf der Strada Academiei 21.«
»Verbindlichen Dank«, sagte Byron. »Wir wissen Ihre Empfehlun gen sehr zu schätzen und werden ihnen gern folgen.«
»Ihr Körper wird es Ihnen danken«, versicherte Basil Sahar. »Und wenn Sie demnächst nach Konstantinopel kommen, steigen Sie un bedingt im Pera Palace ab. Es wird vom Unternehmen des Orient-Ex press geführt, was einen entsprechenden Standard und Service ga rantiert. Dort werde auch ich eine Weile Logis nehmen. Und bitte machen Sie mir das Vergnügen, mich dort aufzusuchen und Sie zu ei nem Essen einladen zu dürfen. Auch zögern Sie nicht, sich an mich zu wenden, wenn ich Ihnen dort irgendwie behilflich sein kann. Sie wissen, ich kenne diese Stadt so gut wie kaum ein anderer.«
»Ja, als Fremdenführer und Feuerwehrmann!«, merkte Alistair spöt tisch an.
Basil Sahar lachte. »In der Tat, aber längst auch als gern gesehener Gast des Sultans und seines Hofes!«, fügte er hinzu. Und dann trenn ten sich ihre Wege.
Die vier Gefährten ließen sich mit einer der altmodischen Miet droschken, die vor der Bahnhofshalle warteten, ins Grand Hotel Boule vard bringen. Da sie im Zug schon ein Abendessen zu sich genom men hatten, verspürte keiner von ihnen das Bedürfnis, eines der vom Waffenhändler empfohlenen Restaurants aufsuchen. Sie erkundig ten sich beim Concierge, mit welchen Verkehrsmitteln sie am nächs ten Tag ihre Reise in die südlichen Karpaten und in das Gebiet am Negoi fortsetzen konnten.
»Da müssen Sie über Piteschti reisen, ein kleines Städtchen, das am Fuß der Vorberge liegt«, teilte ihnen der Concierge mit. »Aber Sie wer den die Postkutsche nehmen müssen und für die Strecke wegen des scheußlichen Wetters fast einen ganzen Tag brauchen. Denn die Zweigbahn nach Piteschti befindet sich noch im Bau. Wie Sie von dort zum Negoi-Pass kommen, das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ir gendeine Verbindung über den Pass hinüber nach Siebenbürgen wird es schon geben. Vielleicht weiß der Postkutscher morgen mehr dazu.«
Horatio seufzte. »Mit der Postkutsche bei diesen Straßen und dem Wetter, das wird ja was werden!«, murmelte er ahnungsvoll, als sie sich in die dunkle Hotelbar begaben, um sich vor dem Schlafengehen noch einen gemeinsamen Schlummertrunk zu gönnen.
Die Fahrt mit der Überlandkutsche der rumänischen Post am fol genden Tag erwies sich als noch beschwerlicher, als sie vermutet hatten. Auch mussten sie einen Großteil ihres umfangreichen Reise gepäcks in einem Lagerraum des Hotels zurücklassen. Denn die bei den Gepäckträger der
Weitere Kostenlose Bücher