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Die Judas-Papiere

Die Judas-Papiere

Titel: Die Judas-Papiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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Kutsche, einer an der Rückwand und der ande re auf dem Dach, waren bei ihrem Eintreffen an der Poststation schon reichlich mit den Kisten, Koffern und Säcken jener beiden Fahrgäste beladen, die lange vor ihnen Plätze in der Postkutsche re serviert hatten. Es waren schweigsame rumänische Händler, die mit in Bukarest eingekauften Waren in ihre Heimatstadt Peteschti zu rückkehrten.
    Müde und mit schmerzenden Gliedern trafen sie kurz vor Einbruch der Dunkelheit und bei eisigem Wind, der ihnen den Schnee ins Ge sicht fegte, in dem Städtchen am Fuß der Transsylvanischen Alpen ein. Ein Fluss namens Arges, durch dessen Bett eisig klares Gebirgswasser mit kräftiger Strömung rauschte, schnitt mitten durch den Ort.
    »Was für ein armseliges Nest!«, brummte Alistair beim Anblick der einfachen Lehmhütten und Häuser, die alle etwas Gedrungenes und Geducktes an sich hatten, als müssten sie sich im Angesicht der na hen, wilden Bergwelt kleinmachen und sich schutzsuchend aneinan derdrängen. »Dagegen ist das provinzielle Bukarest ja geradezu ein quirliger und weltstädtischer Ort! Kaum zu glauben, dass es Morti mer Pembroke in diese gottverlassene Gegend verschlagen haben soll!«
    »Es dürfte nicht eben leicht sein, hier vier akzeptable Zimmer für uns zu finden«, prophezeite Horatio.
    Er irrte sich nicht. Doch nach einigem Hin und Her fanden sie am nördlichen Rand von Piteschti einen einfachen Gasthof mit winzigen Fenstern und weit vorspringendem Dach, der sich Goldene Krone nannte und sie aufnehmen konnte. Die Kammern im Obergeschoss waren enge Verschläge, jedoch sauber. Und das Bettzeug sah nicht danach aus, als hätten schon Dutzende Gäste vor ihnen darin ge schlafen.
    Auf der langen und beschwerlichen Fahrt mit der Postkutsche hat ten sie tunlichst darauf verzichtet, bei den Zwischenstopps etwas zu sich zu nehmen. Jeder hatte befürchtet, das Essen hinterher bei dem fürchterlichen Geschaukel nicht bei sich behalten zu können. Nun aber trieb sie der Hunger hinunter in die geräumige Schankstube, deren niedrige Balkendecke von Tabak-und Kaminrauch geschwärzt war.
    Byron fiel auf, dass an mehreren Stützbalken eiserne Kruzifixe an gebracht waren. Auch betrachtete er verwundert die dicken Gebinde voller Knoblauchknollen, die sich über und unter den Kreuzen um die Balken wanden.
    Die Wirtsstube war so gut wie leer. Dort hielten sich nur fünf Gäste auf. Vier davon waren derbe Gestalten mit großen schwarzen Schnurr bärten, bei denen es sich zweifellos um einheimische Bauern oder Knechte handelte. Denn sie trugen die traditionelle bäuerliche Tracht. Ihre Hemden und Hosen waren aus gewalktem Filz, überall mit roten und schwarzen Motiven bestickt. Ihre Schuhe hatten hochgebogene Spitzen, ihre Jacken waren aus Ziegenfell gearbeitet und auf dem Kopf saß bei jedem eine rote Kappe. Sie hatten sich am breiten Holzbord des Ausschanks auf dreibeinigen Hockern breitgemacht und ließen lärmend einen Würfelbecher in ihrer Runde kreisen.
    Der fünfte Gast war ein hagerer, knochengesichtiger Mann mit strohig rotblondem Haar, der abseits der fröhlichen Gruppe in einer Ecke neben der Stiege zum Obergeschoss saß. Seiner großstädtischen Kleidung, die aus einem dunklen Wollanzug, steifem weißem Stehkragen und taubengrauer Krawatte mit einer Perle als Krawattennadel bestand, und überhaupt seiner ganzen Erscheinung nach musste er aus einem westeuropäischen Land kommen.
    Schau an, ein Engländer!, fuhr es Byron durch den Kopf, als sein Blick im Vorbeigehen auf die Zeitung fiel, die neben einigen Briefen und ei ner schwarzen Kladde auf dem Tisch des Fremden lag, handelte es sich doch um eine Ausgabe der Londoner Times . Der Titelüberschrift nach, die in großen Lettern den Ausbruch des Krieges zwischen den Philippinen und den USA verkündete, war diese Zeitung jedoch viele Monate alt, hatten die Kriegshandlungen in der Inselgruppe doch schon zu Beginn des Jahres, nämlich am 4. Februar begonnen.
    Der Mann nickte ihnen auf Byrons Gruß hin knapp und reserviert zu, hustete in ein kariertes Taschentuch und nahm einen Schluck aus seinem Steinhumpen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den zerknitterten Briefen zu, die er vor sich liegen hatte.
    Byron nahm mit seinen Gefährten an einem Tisch nahe des herrlich warmen, prasselnden Kaminfeuers Platz und vergaß den Fremden in ihrem Rücken. Weder er noch die anderen ahnten, dass ihr weiteres Schicksal schon bald eng mit ebendiesem Landsmann verbunden sein

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