Die Judas-Verschwörung: Mysterythriller (German Edition)
sich erleichtert, dass Miriam bei ihm war. Jetzt, nachdem Hassan tot und kein anderer Mensch da war, wusste er nicht, was er getan hätte. Er wäre wahrscheinlich zusammengebrochen und verzweifelt und ziellos durch die Straßen geirrt. Was taten die anderen in dieser menschenleeren Stadt? Waren auch sie in ihren trostlosen Wohnungen gefangen und warteten nur darauf, dass der Tod kam? Er lehnte sich mit dem Rücken an die Brüstung und blickte zu Miriam hinüber. Er kratzte sich den Bart.
»Wie alt sind Sie … Miriam?« Zum ersten Mal sprach er sie mit Namen an.
»Achtundzwanzig.«
»Würden Sie gern heiraten?«
Miriam blickte auf und dann rasch weg, als sei die Frage zu intim. Sie hatte Angst vor dem Alleinsein.
»Erzählen Sie mir, was geschehen ist, nachdem wir gegangen sind!«
Mit ausdrucksloser Stimme schilderte sie die Verheerungen, die Alexandria heimgesucht hatten. Die Panik, als die Menschen entdeckten, dass das Wasser verseucht war, dann der Amoklauf des Pöbels, den keine Polizisten stoppten. Schließlich die Ankunft der Seuche und die Dezimierung der Einwohnerschaft, begleitet vom Zusammenbruch der Loyalitäten und Freundschaften, als Nachbarn einander bestahlen, Freunde einander töteten und Brüder einander verließen. Jussef hob die Hand, um ihr Einhalt zu gebieten. Ihm wurde klar, dass er einen Entschluss fassen, die Führung übernehmen musste.
»Wenn nur noch eine Handvoll Leute in die Kirche kommen, verschwinden wir hier und fahren zum Kloster des heiligen Antonius zurück. Haben wir Benzin?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann versuchen, ein wenig aufzutreiben.«
»Das ist zu gefährlich. Ich gehe.«
Die junge Frau lächelte ihn matt an. Pater Jussef hatte doch keine Ahnung, wo er suchen sollte. Aber traute sie sich? Sie hatte gesehen, was mit Frauen geschah, die allein auf die Straße gingen.
»Entscheiden wir das später.«
Die Stunden verstrichen, es begann zu dämmern. Mit der Dämmerung kam die Angst. Sie hatte sich den ganzen Nachmittag in Jussef aufgebaut. Eine große Furcht, dass etwas sehr Unangenehmes geschehen würde. Doch sosehr er sich auch bemühte, die Angst aus seinen Gedanken zu verbannen, sie blieb dort und wuchs wie ein Unkraut. Als er im Dämmerlicht über die Brüstung blickte, flackerte in seinem Geist ein seltsames Bild auf. Das Bild fremder Krieger, die von Haus zu Haus gingen und die Lebenden erschlugen. Würden die Dämonen hierherkommen? Was sollte sie aufhalten? Er wünschte, er hätte Gott niemals darum gebeten, zu seiner Kirche zurückkehren zu dürfen. Doch wenn er es nicht getan hätte, wer würde dann Miriam helfen, jetzt, nachdem Hassan gestorben war? Wer würde den Gläubigen die Messe lesen?
Miriam und Jussef stiegen vom Dach und aßen noch ein wenig aus den Dosen in der improvisierten Küche. Das Angstgefühl in Jussefs Herzen wurde stärker. Sein Geist war voller nachdrücklicher Warnungen, das Gebäude nicht zu verlassen, aber er musste es tun; er hatte Hassan versprochen, dass sie die Kirche offenhalten würden. Immer wieder blickte er auf seine Uhr, als könnte er dadurch die schicksalsschwere Stunde hinauszögern. Doch der Zeiger bewegte sich unaufhaltsam auf sieben zu.
Während er so im Kerzenlicht an dem Holztisch saß, streckte er die Hand aus und ergriff Miriams Hand: Sie war weich und warm; noch nie hatte er, seit er Priester geworden war, die Hand einer Frau berührt.
»Miriam, Sie sollten nicht mit mir zur Messe gehen. Ich gehe allein in die Kirche.«
»Aber Sie brauchen Hilfe.«
»Nein. Sie dürfen das Gebäude nicht verlassen, auf keinen Fall. Wenn ich nicht zurückkomme, versuchen Sie morgen, zu Josua zu kommen. Glauben Sie, dass er noch lebt?«
»Ja.« Sie drückte ihm die Hand. Den ganzen Nachmittag hatte sie Angst empfunden, was ihr gar nicht ähnlich sah. Aber war es Angst um sich oder um den Priester gewesen?
Er stand auf und ging zur Tür. Er drehte sich um. »Miriam, ich habe mich in Ihnen geirrt. Ich hoffe, dass Sie Josua wiedersehen und ihr glücklich werdet. Aber wenn nicht, dann werden wir uns« – er deutete mit seiner Hand nach oben – »an einem anderen Ort wiedersehen.«
»Adieu, Pater Jussef.«
Jussef öffnete die Tür zum Seminargebäude so leise wie möglich und spähte ins Dunkel, horchte. Kein einziger Laut. Er verschloss die Stahltür und steckte den Schlüssel in seine Kutte. Er hatte keine Taschenlampe bei sich, da er den Weg kannte und keine Aufmerksamkeit erregen wollte. Statt zur Haupttür der
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