Die Judas-Verschwörung: Mysterythriller (German Edition)
hatten genug gesehen und getan. So wurden also die kirchlichen Wortschöpfer in den Audienzsaal beordert. Sie nahmen Platz, zückten ihre Stifte, bereit, das Abschlusskommuniqué zu formulieren. Ob das wohl klappen konnte? Würden die christlichen Fraktionen sich vereinigen? Würden die Juden und die Muslime zusammenkommen? Würde Religion sich zu einer lebendigen Kraft des Guten wandeln, anstatt nur ein leeres Ritual zu sein? Stunde um Stunde debattierten die spirituellen Meister, stritten weiter über Fragen der Lehre, und Stunde um Stunde blieben sie gespalten. Denn es mussten noch zwei heikle Probleme gelöst werden. Wem sollte man den spirituellen Vortritt lassen? Und wer hatte recht? Diese Schattenboxer kämpften bis zum intellektuellen Umfallen, um die in ihren Augen zentrale Frage der Religion zu bestimmen:
Wer kommt als Erster in den Himmel?
Johannes XXVI . besaß noch eine letzte Karte, die er ausspielen konnte. Er berief ein letztes Treffen des Großen Konklaves im Petersdom ein und bat alle Menschen auf der Welt, für seine Absichten zu beten. Sein Gebet lautete schlicht: »Finde mir den größten lebenden Heiligen in Italien! Finde mir den, der über die Seelen dieser Nation wacht!«
Würde Gott ihn erhören?
* * *
Als dieses päpstliche Ersuchen über Rundfunk ausgestrahlt wurde, wurde es von großen Teilen der italienischen Bürgerinnen und Bürger ignoriert. Zu diesen gehörte auch Roberto Martinelli – was nicht überraschend war. Denn der Ministerpräsident Italiens war im Herzen Geschäftsmann, und zwar kein ehrlicher. Er hatte ein Telecom-Imperium aufgebaut, dessen Tentakel sich über ganz Europa und andere Kontinente erstreckten. Und wie es mit den meisten italienischen Dingen so geht, zog das Geschäft an irgendeinem Punkt die Aufmerksamkeit der Mafia auf sich. Natürlich kooperierte Signore Martinelli nicht mit diesen Leuten – das wäre ja illegal gewesen. Aber er koexistierte mit ihnen, und wenn die Mafia hin und wieder seinen Geschäften
rein zufällig
half, so war das nützlich. Und wenn er ihr im Gegenzug
rein zufällig
einen oder zwei Gefallen erwies, dann war das Freundschaft – und keinesfalls Verrat an seinem Land.
In dieser Hinsicht verhielt sich Signore Martinelli nicht anders als die meisten europäischen Politiker. Für sie war Moralität relativ – nicht absolut –, und sie halfen immer ihren Verwandten. Gewiss: Die Politiker wurden vom Staat dafür bezahlt, ehrlich zu sein. Doch hatten sie auch im Verborgenen große Geldsummen von Konzernen, Geschäftsleuten, Lobbygruppen, zwielichtigen Charakteren usw. erhalten, und denen gegenüber mussten sie doch auch ehrlich sein, nicht? Und ehrlich sein bedeutete in diesem Zusammenhang, diesen Menschen zu geben, was sie im Gegenzug für ihr Geld haben wollten. Für diese Politiker kam Gott in der Gleichung nicht vor. Viele behaupteten im Wahlkampf, Gott sei ihr »Freund«, doch Er besaß keine Stimme und konnte deshalb ausgemustert werden.
Für die meisten Menschen war das Meeressterben eine Katastrophe, für andere dagegen bedeutete es einen unverhofften Geldsegen. Vor allem für Signore Martinelli. Wie es das Glück so wollte, besaß er Aktien an einem Unternehmen auf Sardinien, das Kleidung für Gefahrgut-Industrien herstellte, und diese Kleidung wurde bald von den Fischern benötigt, die die sterbenden Meerestiere einsammeln mussten. (Signore Martinelli bestand als erster Politiker darauf, dass die Fischer angemessen geschützt waren, wenn sie mit infizierten Kadavern in Kontakt kamen.) Zudem besaß er Anteile an einer Immobilienfirma, die bereit war, der italienischen Regierung Land zu verkaufen, auf dem die Kadaver schnellstmöglich entsorgt werden konnten. Und wie es das Glück so wollte, besaß Signore Martinelli auch eine Firma, die Erdbaumaschinen herstellte und in der Lage war, Bagger, Traktoren und Lkws an die Regierung zu verkaufen, wenngleich zu hohen Preisen. So profitierten Signore Martinelli wie auch andere vom Meeressterben. Doch sollte man nicht meinen, dass der italienische Ministerpräsident völlig unehrlich war. Denn wenn
er
unehrlich war, hätte dies bedeutet, dass die meisten – wenn nicht alle – europäischen Politiker jener Zeit unehrlich waren. Und das war nur eine subjektive Meinung – die vor Gericht nicht bewiesen werden konnte, wo Politiker Scharen von Anwälten hatten, die sie schützten.
Jetzt, da weitere Millionen auf seine Bankkonten flossen, hätte Signore Martinelli ein
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