Die Juliette Society: Roman (German Edition)
unwahrscheinlich es klingen mag, auch in mir habe; so sehr wir uns auch von unserem Hintergrund, unserem Temperament und unserem Charakter her unterscheiden mögen: Da ist etwas, das uns verbindet.
Ich bin nicht verklemmt. Und ich bin keine Masochistin – zumindest nicht dass ich wüsste – aber Séverines Fantasien treffen bei mir einen Nerv. Ihre Realität weniger.
Ich sitze im Kino und meine Fantasie geht mit mir durch. Und schon bald weiß ich nicht mehr, wo der Film aufhört und wo meine Träume anfangen.
Als die Vorstellung vorbei ist, und ich aus der Dunkelheit in die helle Nachmittagssonne trete, fühle ich mich wie auf einem Drahtseil über einem gähnenden Abgrund und habe Mühe, die Balance zu halten. Ich bebe innerlich. Ich weiß nicht, was da gerade mit mir geschehen ist. Ich bin so verwirrt. Bin ich in einer Art Delirium oder einfach nur verrückt geworden? Ich weiß nur, dass ich nicht will, dass meine Fantasien aufhören. Ich hätte mir nie vorstellen können, welche Lust mir das bereitet, und jetzt, wo ich es weiß, will ich mehr.
Auf dem Nachhauseweg bin ich wie in Trance, wie auf Autopilot, während ich die einzelnen Szenen im Kopf noch einmal durchgehe. Ich habe vergessen, wo ich bin, und finde mich schlagartig im Film wieder.
Ich bin gegen meinen Willen unter den ausladenden Ästen einer Kiefer an den Stamm gebunden – von dem Mann, den ich anbete. Auf sein Geheiß hin werde ich von zwei brutalen Kerlen gezüchtigt, geschlagen und grob behandelt, während er zusieht, gleichgültig gegenüber meinem Leid.
Meine Hände wurden mit einem rauen Strick so weit über meinem Kopf gefesselt, dass sich die Armmuskeln dehnen und zu brennen anfangen. Meine Füße berühren gerade noch den Boden, der unter mir zu schwanken scheint. Die Nähte meines Kleides sind zerrissen, und es hängt von meiner Taille wie ein welkes Blütenblatt. Die BH-Träger baumeln lose um meine Schultern, die Bügel bohren sich in meine immer härter werdenden Nippel.
Lederpeitschen schnellen hinunter auf meinen Rücken, brennen auf meiner Haut, erst eine, dann noch eine, in rascher Folge schlagen sie einen Rhythmus, der mich in seinen Bann zieht. Ich höre das Schnalzen der Peitsche und dann folgt … das Brennen. Das Schnalzen. Und dann das Brennen. So unausweichlich wie der Blitz auf den Donner, folgt Lust auf Schmerz. Die Intensität nimmt mit jedem Schlag zu, bis beides, Lust und Schmerz, nicht mehr zu ertragen sind. Adrenalin schießt durch meinen Körper.
Ich biege um eine Kurve.
Ich bin noch nicht einmal auf halbem Weg nach Hause und rattengeil.
Hinter der nächsten Kurve befinde ich mich wieder im Film. Ich bin im Bordell, mache mich bereit, von einem Wüstling mit einem Stock, Goldzähnen und einer groben, urwüchsigen Arroganz in die Freuden der frevlerischen Lust eingeführt zu werden.
Wenn es stimmt, dass Kleider Leute machen, dann ist dieser Mann eine Lektion in Widersprüchlichkeit. Er trägt modische Chelsea-Boots aus Lackleder, das bereits stumpf und abgetragen ist, und zerschlissene Socken mit Löchern darunter. Einen Siegelring aus Metall mit einem großen, fein geschliffenen Diamanten. Seine Goldzähne blitzen auf, wenn er sie bleckt und die Lippen zu einem fiesen Grinsen verzieht. Seine Haare, der Ledermantel, die Schuhe, alles ist schwarz wie die Nacht. Die anderen Klamotten passen nicht zusammen und wirken abstrus. Eine violette Weste und eine Krawatte mit lautem, grellem Muster.
Als er sein Hemd auszieht – ein weißes Hemd, das einzig Reine, Unkomplizierte an ihm – kommt ein schlanker, haarloser Oberkörper mit den feinen Konturen einer Marmorstatue zum Vorschein. Blasse, makellose Haut – bis er sich umdreht.
Auf seinem Rücken befindet sich eine große Narbe unterhalb des Schulterblatts, eine zerfurchte Sichel zerstörten Gewebes, noch blasser als seine restliche Haut, auch wenn das kaum möglich erscheint; die Andeutung entsetzlicher Gewalt.
Er mustert mich mit gekünstelter, vornehmer Distanziertheit. Ich sehe ihn an und muss an Marcus denken; er ist jünger und derber und ruppiger; gefährlich und unberechenbar, wo Marcus sanft und schüchtern ist. Ich betrachte ihn, und stelle mir vor, wie ich Marcus gerne hätte, wie er mich behandeln soll.
Mit Verachtung.
Ich fange an, meine Unterwäsche auszuziehen. Er blickt mir scharf in die Augen und sagt: »Lass die Strümpfe an.«
Ein Befehl, keine Bitte. Er macht den Reißverschluss seiner Hose auf, während er mich weiter anstarrt und
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