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Die Juliette Society: Roman (German Edition)

Die Juliette Society: Roman (German Edition)

Titel: Die Juliette Society: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sasha Grey
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dokumentiertes Phänomen, bei dem Menschen in der Gegenwart großer Kunstwerke Angstzustände, Ohnmachtsanfälle oder sogar leichte Psychosen erleiden.
    Stendhal-Syndrom. Klingt nach etwas, das sich ein chronischer Hypochonder ausdenken würde, wenn er nacheinander die Begriffe »Kunst« und »Psychose« nachschlägt. So wie chronische Hypochonder immer ihre Symptome nachschlagen und die Details dabei absichtlich sehr frei interpretieren, in der Hoffnung, irgendeine schreckliche, unheilbare Krankheit bei sich diagnostizieren zu können – umso schlimmer sie ist, desto eher beruhigt es ihre Nerven. Und Stendhal-Syndrom klingt nach einer ganz schlimmen Krankheit.
    Für mich ist Das Stendhal-Syndrom einfach nur der Titel eines Horrorfilms von Dario Argento, den ich mal gesehen und nicht mehr vergessen habe. Es geht um eine junge Polizistin, gespielt von Darios Tochter Asia, die im Zuge ihrer Ermittlungen einen brutalen Mörder in ein Museum verfolgt und dort beim Anblick der Erhabenheit der Kunstwerke, mit denen sie konfrontiert wird, regelrecht erstarrt. Botticellis Die Geburt der Venus und Caravaggios Medusa : göttliche Schönheit und pures Grauen.
    Und sie ist vollkommen überwältigt. Ihr Sichtfeld verengt sich auf die Gemälde, bis sie nichts anderes mehr wahrnimmt. Bis sie sich selbst in einer Position wiederfindet, in der sie die Werke nicht mehr von außen betrachtet, sondern aus dem Gemälde herausschaut.
    Wie Alice hinter den Spiegeln.
    Ich frage mich, ob dieser Film der Schlüssel zu dem ist, was mir widerfährt. Und mir wird bewusst, wie dämlich das klingt, als würde man durch Horrorfilme irgendwelche Erkenntnisse gewinnen. Oder durch Filme im Allgemeinen. Als wäre die Kunst in der Lage, etwas anderes zu bewirken als bloß weitere Fragen aufzuwerfen.
    Ich habe so viele Fragen und weiß nicht, was ich tun soll. Aber ich weiß, wer mir helfen kann.
    Ich fange Anna nach der Vorlesung ab, und wir gehen in die Cafeteria, die nach dem Mittagsandrang so gut wie leer ist. Wir setzen uns an einen Tisch, der sich abseits der anderen befindet. Ich will ihr alles erzählen, aber ich weiß, dass es sich verrückt anhört, wie die Hirngespinste einer Wahnsinnigen.
    Also erzähle ich ihr stattdessen, dass ich diese wirklich realistischen Träume habe.
    »Von Marcus«, sagt sie.
    Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Wie kann sie das wissen?
    »Ja«, antworte ich. »Von Marcus.«
    Anna klatscht in die Hände und kichert, begeistert wie ein Kind am Weihnachtsabend.
    »Ich will alle schlüpfrigen Details hören«, ruft sie. »Lass bloß nichts aus.«
    »Warst du jemals so geil, dass du dachtest, du wirst verrückt? Dass du den Bezug zur Wirklichkeit verlierst und nie wieder klar denken kannst?«
    »Im Traum?«, fragt Anna.
    »Ja«, antworte ich. »Oder sonst wann.«
    »In der Realität«, sagt sie.
    Ich nicke.
    Ohne ein weiteres Wort schiebt sie den breiten silbernen Armreif mit schnörkeligen Verzierungen hoch, den sie am linken Handgelenk trägt. Darunter zeichnet sich ein Ring aus tiefen, dunkelvioletten Blutergüssen ab, wie der Abdruck eines Fossils, der sich in ihre Haut gegraben hat. Als hätte sich das Muster des Armreifs in ihr Handgelenk gebrannt.
    »Schön, oder?«, meint sie und fährt wie in Trance die Spuren leicht mit dem Finger nach.
    Es sieht grotesk aus. Und schmerzhaft.
    Sie hat so hübsche, zarte Handgelenke. Jetzt wirken sie geschwollen und entstellt.
    »Was ist passiert?« Ich versuche, nicht zu geschockt zu klingen, aber es fällt mir schwer.
    »Sie haben mich gefesselt«, sagt sie, als wäre das die natürlichste Sache der Welt. Als erwarte sie, dass ich Bescheid weiß.
    »Wer sind ›sie‹?«, frage ich.
    Anna erzählt mir alles. Sie verrät mir alle ihre Geheimnisse. Sie erzählt mir Dinge über sich, mit denen ich niemals gerechnet hätte.
    Sie berichtet von der Website, für die sie als Model arbeitet.
    »Die zahlen echt gut«, sagt sie. »Das komplette Studium, alle meine Rechnungen.«
    Der Grund, warum die Bezahlung so gut sei, meint sie, bestehe darin, dass die Site »sich an ein sehr exklusives Klientel« richte.
    »Was sind das für Leute?«, hake ich nach.
    »Leute, die wissen, was sie wollen«, sagt sie. »Leute, die einen bestimmten Typ von Frau in ganz speziellen Situationen sehen wollen. Hübsche, willige, junge Dinger, die festgebunden, gefesselt oder angekettet sind, die diszipliniert und eingesperrt werden.«
    Ich versuche, mir vorzustellen, was das für Leute sind und

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