Die Juliette Society: Roman (German Edition)
warum sie so etwas sehen wollen. Ich schaue auf Annas Handgelenke und frage mich, was sie davon hat – abgesehen von schlimmen Blutergüssen.
Ich frage mich, ob sie sich selbst verletzt oder ob sie sich vielleicht früher geritzt hat, wie ein paar Mädchen auf meiner Highschool. Diese eigenartigen, verbitterten Einzelgängerinnen aus guten Familien, die ein so verkorkstes Verhältnis zu ihren Körpern und allem anderen hatten, dass sie sich immer weiter verletzten, irreparabel, innerlich wie äußerlich.
Und ich frage mich, ob es vielleicht das ist, was diese Mädchen tun, wenn sie einmal aus ihren Teenagerzwängen herausgewachsen sind und sich erwachsenen Obsessionen zuwenden. Ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen, warum sich jemand sonst so etwas antun würde. Nicht für die beste Collegeausbildung der Welt.
»Aber es geht nicht bloß ums Geld«, schiebt Anna nach, als könne sie meine Gedanken lesen. Und beinahe glaube ich ihr.
Ich betrachte erneut ihr Handgelenk. Da fallen mir zwei weitere große Blutergüsse an ihrem Oberarm auf. Sie trägt eine ärmellose Bluse, also könnte sie sie gar nicht verbergen, selbst wenn sie wollte. Aber ich glaube nicht, dass sie das will.
»Stammen die auch daher?«, frage ich sie.
»Die da?«, meint sie und streicht liebevoll mit dem Zeigefinger darüber. »Nein.« Sie lächelt, als würde sie sich schöne Erinnerungen ins Gedächtnis rufen. »Das sind Fickflecken. Kennst du doch, oder?«
Kenne ich nicht, aber ich hab da so eine gewisse Vermutung.
Anna erzählt mir, dass sie einen Freund hat. Eigentlich hat sie viele Freunde – abgesehen von Marcus –, und alle geben sie ihr etwas anderes. Jeder befriedigt einen anderen Teil von ihr. Dieser eine Typ jedoch nimmt sie gerne hart ran und hinterlässt seine Markierungen, damit die anderen sehen können, wo er war. Und sie findet das auch völlig in Ordnung.
»Ich mag es, sie auf meinem Körper zu spüren«, sagt sie und berührt die Blutergüsse. »Solange ich sie sehen und spüren kann, erinnern sie mich daran, wie sie da hingekommen sind. Ich erinnere mich daran, wo seine Hände waren. Wie er mich gefickt hat. Ich sehe gern zu, wie sie langsam verblassen. Erst rot, dann schwarz, dann grün, dann golden. Und wenn sie ganz verschwunden sind, dann weiß ich, es ist Zeit, mal wieder mit ihm zu vögeln.«
Von allen ihren Freunden hat sie ihn wohl am liebsten, weil er der einzige ist, der genauso denkt wie sie. Weil er wie sie glaubt, dass »Sex und Gewalt bloß zwei Seiten einer Medaille« sind – und weil er das nicht nur glaubt, sondern auch danach handelt.
»Weißt du noch, wie sie uns in der Schule die Geschichte von den Bienchen und den Blümchen erzählt haben?«, fragt mich Anna. »Tja, sie sagen einem nicht alles, nicht die ganze Wahrheit. Sie erzählen einem bloß Bruchstücke. Bloß das Zeug, das wir ihrer Meinung nach wissen müssen. Nur den Blümchenteil. Die ganzen Märchen über das Liebeswerben und die Paarungsrituale und die Aufzucht der Nachkommen. Aber auf die Bienen gehen sie nicht so genau ein.«
»Klar machen sie das«, widerspreche ich. »Sie erzählen einem, dass sie von Blume zu Blume fliegen und so die Pollen verteilen.«
Anna schüttelt den Kopf und verdreht die Augen. »Weißt du, wie Bienen ficken?«
»Ich glaub nicht«, antworte ich ehrlich. »Ich glaub, darüber hab ich auch noch nie nachgedacht.«
»Es ist brutal«, sagt sie. »Echt brutal.«
Wenn Bienen ficken, erzählt mir Anna, ist das wie harter Sex, bloß dass dabei nicht das Weibchen den Kürzeren zieht sondern das Bienenmännchen.
»Wenn es seinen Penis in die Königin steckt, stülpt er sich um«, erklärt sie. »Und wenn das Männchen kommt, ist das wie ein Feuerwerk. Die Explosion ist so heftig, dass sie das Männchen wegschleudert und ihm den Schwanz abreißt. Und ein paar Stunden später stirbt es an den Folgen …«
»Wenn mir ein Kerl zu grob wird«, fährt sie nach einer kurzen Pause fort, »oder wenn er nervt oder ich mich einfach nicht für ihn interessiere, dann erzähle ich ihm von den Blümchen und den Bienchen«, meint sie lachend. »Das mit den Bienen weiß keiner. Und sie wollen es auch gar nicht so genau wissen.« Sie kichert. »Ein Fick, und alles ist vorbei. Stell dir vor, wie anders die Welt aussehen würde, wenn es für die Männer auch so wäre. Und wenn wir in der Schule nicht nur das mit den Blümchen lernen würden, sondern auch das von den Bienen. Stell dir vor, wie dann später mal der Sex
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