Die Juliette Society: Roman (German Edition)
kapiere ich es. Er hat mich zu etwas gemacht, das ich niemals sein wollte. Ich habe mich in Bundys verkorkste, ins Gegenteil verkehrte Pygmalion-Fantasie hineinziehen lassen, in der alles Weibliche perfekt ist und nur darauf wartet, in eine Hure verwandelt zu werden. Bundy hat aus mir eine Séverine gemacht. Belle de Jour. Das Tagesgericht. Eine von Bundys Schlampen.
Ich fühle mich schmutzig und missbraucht. Mein Magen fühlt sich hohl an, und ich merke, wie Übelkeit in mir aufsteigt. Mir ist so schlecht, dass ich kotzen könnte. Doch dann weicht die Übelkeit der Wut. Und ich kann bloß noch diese rasende Stimme in meinem Kopf hören:
Wie konntest du nur so blöd sein?
Ich schreie innerlich vor Zorn, denn Bundy hat mich gelinkt, und ich bin darauf reingefallen. Ich habe mir eingeredet, dass ich alles unter Kontrolle hätte, dass ich schlauer bin als er.
Ich habe mich getäuscht.
16. Kapitel
Was ich mich jetzt frage, ist:
Was ist Erfahrung wert? Und welchen Preis hat sie?
Und das sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge. Das eine hat mit Sinn zu tun, das andere damit, Opfer zu bringen.
Wir sind es gewöhnt, einen Preis zu bezahlen – für unseren Wocheneinkauf, unsere Gesundheit, unsere Fehler, Abenteuer und andere Sünden, Affronts und Vergehen – und stellen weder den Preis dafür infrage noch, wer darüber entscheidet und warum. Und als Gesellschaft scheinen wir geradezu besessen von dem zu sein, was wir verlieren können – ob es sich nun um die Unschuld handelt, die Privatsphäre, Privilegien, Sicherheit oder Respekt –, weniger jedoch davon, was wir gewinnen können.
Kein Mensch, niemand, kann mir sagen, was meine Erfahrungen wert sind. Niemand außer mir selbst. Das ist etwas, das nur ich wissen, verstehen und fühlen kann, etwas, was nur ich abwägen, bemessen und beziffern kann. Ich kann beschließen, meine Erfahrungen an andere weiterzugeben oder sie für mich zu behalten. Das liegt ganz allein an mir. Darin besteht meine Entscheidungsfreiheit. Es liegt in meiner Verantwortung.
Nehmen wir mal kein Blatt vor den Mund: Wir reden hier von Sex. Vom Ficken. Jeder tut es. Ob nun öffentlich oder im stillen Kämmerlein. Öfter oder selten. Brav oder versaut. Allein oder als Paar oder in einer Gruppe. Mit dem anderen Geschlecht oder dem eigenen. In der Praxis ist es normalerweise eine Kombination aus all dem oben genannten. Unsere Sexualität ist mindestens so komplex wie unsere Persönlichkeit; vielleicht sogar komplexer, weil sie auch unsere Körper mit einbezieht, nicht bloß unseren Geist.
Hier geht es nicht um Wissenschaft, sondern ums Sein. Und deshalb halte ich auch nicht besonders viel von den Schlussfolgerungen von Leuten wie Dr. Kinsey oder Dr. Freud, besonders wenn es um Frauen geht. Denn wie lässt sich Lust quantitativ bestimmen oder kategorisieren? Wie soll man zu einem Werturteil darüber kommen, was für Menschen, für Individuen, gut und was schlecht ist, wenn dieses Urteil doch nur auf ihren Gefühlen basiert? Darauf basiert, wie sie vögeln?
Wir sind alle Freaks. Insgeheim. Im Bett. Hinter verschlossenen Türen. Wenn niemand zusieht. Aber wenn uns doch jemand beobachtet oder anderweitig herausfindet, was wir tun, dann müssen wir den Preis dafür bezahlen. Einen Preis, den wir mit uns herumschleppen wie ein Pfund mehr auf den Rippen. Dieser Preis kann viele Namen haben, doch letztendlich läuft es auf eine Sache hinaus:
Scham.
Nehmen wir die Oberstufenschülerin, die als Schlampe, als Hure abgestempelt wird, bloß weil sie mit ihrer Zuneigung und ihrem Körper freimütig umgeht, während alle ihre Klassenkameradinnen Keuschheitsringe tragen wie Talismane, die ihre Sehnsüchte eindämmen sollen – als ob das jemals funktionieren würde. Aus irgendeinem Grund halten sie sich dadurch für etwas Besseres. Und glauben, dass die andere irgendwie geringer, schwächer, niedriger als sie ist. Weil sie bereits herausgefunden hat, dass sie Sex mag. Und weil sie besonders gern Schwänze lutscht. Unter der Zuschauertribüne. Zwischen Bio und Chemie. Nicht bloß den des Quarterbacks, sondern auch den des Mathestrebers und des Geschichtslehrers. Manchmal einen nach dem anderen, manchmal alle zusammen. Haben Sie jemals darüber nachgedacht, was sie davon hat? Was das für sie wert ist?
Dieses Mädchen ist nicht wie ich. Sie ähnelt eher Anna.
Deshalb weigere ich mich, Anna für die Dinge, die sie tut, zu verurteilen.
Anna kann für jeden Mann alles in einem verkörpern. Sie kann
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