Die Jungfernbraut
Herzenslust betrachten. Er saß untadelig still und zuckte nicht einmal zusammen, als die Sängerin ihre Lungen vollpumpte und ein schrilles hohes C schmetterte. Ein Mann mit Mut und Seelenstärke, sagte Sinjun sich zufrieden. Ein Mann mit guter Erziehung und Lebensart.
Es juckte sie in den Fingern, jenes Grübchen in seinem energischen Kinn zu berühren. Seine Nase war schmal und edel geformt, und sein Mund weckte in ihr den Wunsch ... nein, sie mußte sich wirklich beherrschen, sie durfte ihre Träume nicht mit der Realität verwechseln. Allmächtiger, wahrscheinlich war der Mann verheiratet oder zumindest verlobt. Es gelang ihr, wenigstens nach außen hin Ruhe und Gelassenheit zur Schau zu tragen, als die Darbietung endlich endete und die Gäste sich in den Speisesaal begaben.
Möglichst beiläufig fragte sie ihren Begleiter, Lord Clinton, einen von Douglas' Freunden aus dem Four Horse Club: »Wer ist der Mann dort drüben, Thomas? Der große mit dem pechschwarzen Haar? Siehst du ihn? Er unterhält sich gerade mit drei anderen Männern, die viel kleiner und unscheinbarer sind als er.«
Thomas Mannerly, Lord Clinton, kniff die Augen zusammen. Er war kurzsichtig, aber der Besagte war wirklich nicht zu übersehen, sehr groß und attraktiver als gut für ihn sein konnte. »Ach, das ist Colin Kinross, ein neues Gesicht in London. Er ist der Earl of Ashburnham und ein Schotte.« Letzteres wurde mit einem Anflug von Verachtung gesagt.
»Warum ist er hier in London?«
Thomas warf dem hübschen Mädchen an seiner Seite einen forschenden Blick zu. Sinjun war fast so groß wie er selbst, und das störte ihn ein wenig, aber schließlich sollte er sie nicht heiraten, sondern nur im Auge behalten. Während er ein unsichtbares Stäubchen von seinem schwarzen Ärmel fegte, fragte er behutsam: »Warum interessierst du dich dafür?« Ihr Schweigen beunruhigte ihn zutiefst. »Mein Gott, er ist dir doch nicht in irgendeiner Weise zu nahe getreten? Diese verdammten Schotten sind richtige Barbaren, selbst wenn sie wie der hier in England erzogen wurden.«
»Nein, nein, es war reine Neugier. — Die Hummerpastetchen sind ganz gut, findest du nicht auch?«
Er stimmte zu, und Sinjun dachte: Wenigstens weiß ich jetzt seinen Namen. Endlich! Sie hätte am liebsten laut gejubelt. Thomas Mannerly, der sie in diesem Moment zufällig anschaute, hielt unwillkürlich den Atem an, denn ein bezaubernderes Lächeln hatte er nie im Leben gesehen. Er vergaß die Hummerpastete auf seinem Teller und machte eine geistreiche Bemerkung, die sie zu seinem großen Leidwesen aber überhaupt nicht zu hören schien. Wenn er sich nicht sehr irrte, starrte sie den gottverdammten Schotten an.
Sinjun grämte sich vorübergehend. Sie mußte mehr über ihn erfahren, nicht nur seinen Namen und die Tatsache, daß er ein schottischer Adeliger war, was Thomas sichtlich Unbehagen bereitete. An diesem Abend bot sich ihr keine Gelegenheit mehr, etwas über Colin Kinross herauszufinden, aber sie verzweifelte nicht. Bald würde sie handeln müssen.
Douglas Sherbrooke, Earl of Northcliffe, saß gemütlich in seinem Lieblingssessel in der Bibliothek und las die London Gazette. Als er zufällig aufschaute, sah er seine Schwester auf der Schwelle stehen, was ihn sehr wunderte, denn normalerweise stürzte sie unbekümmert ins Zimmer, lachte und redete auf ihn ein, ob er nun beschäftigt war oder nicht. Ihr sorgloses, unschuldiges Lachen brachte ihn unweigerlich zum Schmunzeln, und sie umarmte ihn und küßte ihn auf die Wange. Aber jetzt lachte sie nicht. Warum zum Teufel sah sie nur so schüchtern aus, so als hätte sie etwas unglaublich Schlimmes angestellt?
Ängstlichkeit war für Sinjun ein Fremdwort; das war schon so gewesen, als er sie zum erstenmal aus ihrer Wiege gehoben und sie ihn am Ohr gepackt und daran gezerrt hatte, bis er vor Schmerz jaulte. Stirnrunzelnd faltete er die Zeitung und legte sie auf seinen Schoß. »Was willst du, Göre? Nein, für den Namen >Göre< bist du nun wirklich zu erwachsen. Also dann, meine Liebe. Komm nur herein. Was ist los mit dir? Alex meint, du hättest etwas auf dem Herzen. Erzähl es mir. Dein Verhalten gefällt mir nicht. Es sieht dir so gar nicht ähnlich und macht mich nervös.«
Sinjun betrat langsam die Bibliothek.. Es war sehr spät, fast Mitternacht. Douglas deutete einladend auf den Sessel ihm gegenüber. Seltsam, dachte Sinjun beim Näherkommen. Sie hatte Douglas und Ryder immer für die attraktivsten Männer der
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