Die Jungfrau Im Eis
dadurch beunruhigen lassen, daß sein Gesicht verschwollen und entstellt ist. Es wird alles wieder heilen, das verspreche ich dir.«
Bruder Elyas lag stumm und reglos da, während ein junger Bruder ihm aus dem Leben des Heiligen Remigius vorlas. Die Schwellungen und Blutergüsse gingen bereits zurück. Er schien keine Schmerzen zu haben, hatte tagsüber etwas gegessen, und als zum Gottesdienst geläutet wurde, bewegten sich seine Lippen geräuschlos mit den Worten der Liturgie. Aber als Yves eingetreten war, ruhte sein Blick ohne jedes Erkennen auf dem Jungen und schweifte wieder gleichgültig in die dunklen Schatten der Ecken des Zimmers. Mit weit aufgerissenen Augen trat Yves auf Zehenspitzen an das Bett.
»Bruder Elyas, Yves ist hier, um Euch zu besuchen. Erinnert Ihr Euch an Yves? Der Junge, dem Ihr in Cleobury begegnet seid, und der Euch in Foxwood wieder verließ.«
Nein, nichts, nichts außer einem leichten Zittern im Gesicht des Patienten, das seine verzweifelte Anstrengung verriet. Yves trat noch näher heran und legte schüchtern seine Hand auf die lange, schlaffe Hand, die auf der Bettdecke lag, aber unter seiner Berührung kalt und teilnahmslos blieb. »Es tut mir leid, daß Ihr verletzt seid. Wir sind nur ein paar Meilen zusammen gewandert... Ich wollte, wir wären die ganze Reise bei Euch geblieben...«
Bruder Elyas starrte an die Decke und zitterte. Hilflos schüttelte er den Kopf.
»Nein, laßt ihn«, sagte Cadfael seufzend. »Wenn wir ihn zu sehr drängen, regt er sich nur auf. Es macht nichts - er hat Zeit genug. Erst muß sein Körper ganz wiederhergestellt werden.
Das Gedächtnis kann warten. Es war den Versuch wert, aber er ist noch nicht wieder so weit. Komm jetzt, du schläfst ja fast im Stehen ein! Wir wollen sehen, daß du ins Bett kommst.«
Cadfael, Hugh und seine Männer machten sich im Morgengrauen fertig und gingen hinaus in eine Welt, die während der Nacht erneut ein anderes Gesicht erhalten hatte.
Kleine Hügel waren verschwunden, Bodensenken aufgefüllt und im schwächer werdenden Wind trugen alle Bergkuppen Fahnen aus feinem Schnee, die aussahen wie träge wippende Hutfedern. Sie hatten Äxte, eine Tragbahre, die aus zwischen zwei Stangen gespannten Lederstreifen bestand, und ein Leinentuch mitgenommen, mit dem sie den Leichnam zudecken wollten. Abgesehen von kurzen Bemerkungen, die sich auf die vor ihnen liegende schreckliche Arbeit bezogen, sagte keiner von ihnen etwas. Mit dem Anbruch des Tageslichtes hatte der Schneefall aufgehört, wie er es seit jener ersten Nacht, in der Yves sich verbissen an die Verfolgung seiner abenteuerlustigen Schwester gemacht hatte, stets getan hatte. In der darauffolgenden Nacht hatte strenger Frost eingesetzt und um diese Zeit hatte ein nächtliches Raubtier das Mädchen überfallen und ermordet, nachdem sie jetzt suchten. Das Eis, dessen war Cadfael sich sicher, hatte sie nämlich schon sehr bald, nachdem sie in den bereits zufrierenden Bach geworfen worden war, eingeschlossen.
Sie fanden sie nach einigem Suchen und Stochern im Neuschnee, fegten das Eis frei und sahen auf sie herab - ein Mädchen in einem Spiegel, eingesponnen in Glas.
»Gott im Himmel!« flüsterte Hugh. »Sie ist ja jünger als der Knabe!« Die undeutliche Gestalt erschien ihm so schmächtig, so kindlich.
Aber sie waren hier, um ihre Ruhe zu stören und sie mitzunehmen, damit sie ein christliches Begräbnis bekomme, obwohl es fast so schien, als sei das Zerbrechen des glatten Eises, das sie umschloß, ein Akt roher Gewalt. Sie gingen behutsam vor und hielten einigen Abstand zu dem zarten, gefangenen Körper. Es war harte Arbeit. Trotz der bitteren Kälte schwitzten sie, als sie das Mädchen und ihren kalten Sarg anhoben, sie wie eine Statue auf die Bahre legten, mit dem Tuch bedeckten und sie langsam zurück nach Bromfield trugen.
Erst als sie den Block in der leeren, kühlen Leichenkammer der Priorei aufgebahrt hatten, begann das Eis zu schmelzen. Die schimmernden Kanten rundeten sich und das Schmelzwasser tropfte in die Rinnen, durch die das Wasser abfloß, mit dem die Toten gewaschen wurden.
Bleich und reglos lag das Mädchen in seinem weißen Leichenhemd da, und doch schien es immer menschlicher und lebendiger zu werden, dem Schmerz und dem Mitleid und der Gewalt entgegenzuwachsen - dem Schicksal, das alle Sterblichen teilen. Cadfael wagte es nicht, den Raum lange zu verlassen, denn Yves war nun auf. Er war ein neugieriger Junge und niemand konnte sagen, wo er als
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