Die Jungfrau Im Eis
Backenknochen und die schwachen Verfärbungen um ihren Mund. »Aber an der Kehle sind keine Druckstellen. Sie ist nicht erwürgt worden.«
»Nein, man hat sie geschändet und dabei ist sie erstickt.«
Alle drei waren so sehr in den Anblick des toten Mädchens versunken, daß sie die Schritte nicht hörten, die sich der geschlossenen Tür des Raumes näherten. Und selbst wenn sie auf Geräusche geachtet hätten, waren diese Schritte so leicht, daß sie sie wohl überhört hätten, obgleich sie ohne Zögern und Heimlichkeit näher gekommen waren. Daß der Junge eintrat, bemerkten sie erst, als beim Öffnen der Tür das vom Schnee reflektierte Licht in den Raum fiel und Yves mit der ihm eigenen unschuldigen Selbstverständlichkeit über die Schwelle trat. Es war nicht seine Art, sich heimlich durch eine spaltbreit geöffnete Tür zu schleichen - in allen seinen Gesten und Handlungen lag der Anspruch eines Angehörigen der Oberklasse. Die Plötzlichkeit, mit der sie herumfuhren, und ihre stirnrunzelnden Mienen ließen ihn mitten in der Bewegung innehalten und kränkten ihn. Hugh und Prior Leonard traten schnell zwischen ihn und den Tisch mit der aufgebahrten Leiche.
»Du solltest nicht hierherkommen, mein Sohn«, sagte der Prior mit gedämpfter Stimme.
»Warum nicht, ehrwürdiger Vater? Niemand hat es mir verboten. Ich habe nach Bruder Cadfael gesucht.«
»Bruder Cadfael wird gleich zu dir kommen. Geh zurück in die Gästehalle und warte dort auf ihn...«
Aber es war zu spät, um ihn hinauszuschicken. Er hatte genug gesehen, um zu ahnen, was die beiden Männer mit ihren Körpern zu verdecken suchten. Das hastig über den Leichnam gezogene Leintuch, die unverkennbare Form des Körpers und das Schimmern des kurzen, hellen Haares, wo das zu eilig hochgeschlagene Tuch vom Kopf herabgerutscht war. Stumm stand er da, in seinem Gesicht regte sich kein Muskel und seine Augen blickten groß und aufmerksam.
Der Prior legte ihm sanft seine Hand auf die Schulter und schob ihn zurück zur Tür. »Komm mit mir. Was es zu sagen gibt, wirst du später hören. Jetzt ist nicht die rechte Zeit.« Aber Yvest stand mit weit aufgerissenen Augen wie angewurzelt.
»Nein«, sagte Cadfael unerwartet, »laßt ihn herkommen.« Er kam um den Tisch herum und trat ein, zwei Schritte auf den Jungen zu. »Du bist verständig, Yves, und nach den Erfahrungen, die du auf eurer Flucht gemacht hast, hat es keinen Sinn, so zu tun, als gäbe es keine Gewalt und Gefahr und Grausamkeit auf der Welt und als müßten Menschen nicht sterben. Wir haben hier einen Leichnam, und wir wissen nicht wer es ist. Ich möchte, daß du ihn dir ansiehst, wenn du willst, und uns sagst, ob du dies Gesicht kennst. Du brauchst keine Angst zu haben - es ist kein schrecklicher Anblick.«
Entschlossen und mit gefaßtem Gesicht trat der Junge näher und betrachtete die mit dem Leichentuch bedeckte Gestalt.
Seine Augen verrieten nur Ehrfurcht. Es ist zweifelhaft, dachte Cadfael, daß ihm je der Gedanke gekommen ist, dies könnte seine Schwester oder überhaupt eine Frau sein. Er hatte gesehen, daß der Blick der weit aufgerissenen Augen auf das kurze, lockige Haar gerichtet gewesen war; Yves hatte geglaubt, der Leichnam sei der eines jungen Mannes. Dennoch wäre Cadfael anders verfahren, wenn er nicht insgeheim schon sicher gewesen wäre, daß das tote Mädchen, wer immer es auch sein mochte, nicht Ermina Hugonin war. Um wen es sich in Wirklichkeit handelte, darüber konnte er nur Vermutungen anstellen. Yves aber würde es wissen.
Er schlug das Tuch über dem Gesicht zurück. Die Hände des Jungen, die er vor der Brust gefaltet hatte, verkrampften sich abrupt. Er holte tief Atem, aber für einen langen Augenblick sagte er nichts. Er zitterte leicht. Als er schließlich zu Cadfaels fragendem Gesicht aufblickte, stand in seinen weit aufgerissenen Augen verwundertes, fast ungläubiges Entsetzen.
»Aber wie kann das sein? Ich dachte... ich verstehe nicht!
Sie...« Er brach ab, schüttelte heftig den Kopf und starrte voller Mitleid und Bestürzung wie hypnotisiert auf das Gesicht vor ihm. »Ich kenne sie, natürlich - aber wie ist es möglich, daß sie hier ist und daß sie tot ist? Das ist Schwester Hilaria, die mit uns aus Worcester geflohen ist.«
5. Kapitel
Gemeinsam geleiteten sie ihn behutsam hinaus auf den verschneiten Hof. Yves war immer noch wie vor den Kopf geschlagen und runzelte hilflos die Stirn über dieses plötzliche und unerklärliche Auftauchen der Frau, die
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