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Die Jungfrau Im Eis

Die Jungfrau Im Eis

Titel: Die Jungfrau Im Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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nächstes auftauchen würde. Er war gut erzogen und sein Betragen war ausgezeichnet, aber wegen seiner Überzeugung, er müsse bevorzugt behandelt werden, und des durchaus angemessenen Wissensdurstes eines Dreizehnjährigen war es vielleicht besser, auf der Hut zu sein.
    Es war zehn Uhr vorbei und die Messe hatte begonnen, als der Eispanzer so weit geschmolzen war, daß das Mädchen zum Vorschein kam: die Spitzen der schlanken, blassen Finger und der ausgestreckten Zehen, die perlartig schimmernde Spitze ihrer Nase und die ersten lockigen Haarsträhnen, die wie feines Spitzengeflecht zu beiden Seiten ihrer Stirn herabhingen.
    Diese Locken erregten Cadfaels Aufmerksamkeit zuerst: Sie waren kurz. Er wickelte eine Strähne um seine Finger und stellte fest, daß ihre Länge nur für eineinhalb Windungen ausreichte. Außerdem war das Haar nicht dunkler als dunkles Gold, und wenn es getrocknet war, würde es eher noch heller sein. Er beugte sich vor und betrachtete den ruhigen, starren Blick ihrer offenen Augen, die immer noch dünn mit Eis bedeckt waren. Sie schienen das sanfte, gebrochene Blau von Irisblüten zu haben, oder aber das dunkle Graublau von Lavendelblüten.
    Als die Messe beendet war, lag das Gesicht frei. Die Luft berührte die Haut und auf Wangen und Mund begannen sich Blutergüsse dunkel abzuzeichnen. Die Spitzen ihrer kleinen Brüste tauchten aus dem glatten Eis auf und jetzt konnte Cadfael deutlich den Schmierstreifen erkennen, der sich dort, auf ihrer rechten Brust, dunkel auf Haut und Stoff abzeichnete.
    Er war rötlich wie ein Kratzer und zog sich kaum wahrnehmbar von der Schulter bis zur Brust. Cadfael wußte wie Blutspuren aussahen. Das Eis hatte sie umschlossen, bevor das erstarrende Wasser das Blut hatte wegwaschen können. Jetzt mochte, während das restliche Eis taute, die Spur verblassen, aber er wußte, wo sie gewesen war und wo er suchen mußte, um zu sehen, wo sie hergekommen war.
    Lange vor Mittag war sie aus ihrem Gefängnis befreit. Ihre Haut fühlte sich unter seinen tastenden Fingern weicher an. Sie war jung und zierlich, und ihr kleiner, wohlgeformter Kopf war von kurzen, blonden Locken umrahmt wie von einem Heiligenschein. Sie verliehen ihr das Aussehen eines Engels auf Gemälden von der Verkündigung Maria. Cadfael holte Prior Leonard herbei und gemeinsam kümmerten sie sich um sie.
    Zwar wuschen sie sie noch nicht - das würde erst geschehen, wenn Beringar den Leichnam untersucht hatte - aber sie richteten sie würdig für ihre ewige Ruhe her. Sie bedeckten den Körper bis zum Hals mit einem Leintuch und bereiteten sie für die Untersuchung vor.
    Hugh Beringar trat ein und betrachtete sie schweigend. So weiß und schlank und ruhig lag sie da, jenseits der Welt der Sterblichen... Ihr Alter mochte wohl achtzehn Jahre sein. Und schön sollte sie sein, hatte man gesagt. Ja, das stimmte. Aber war dies die dunkelhaarige, eigensinnige, verzogene Tochter eines Adeligen, die trotz Winter, Krieg und allem darauf bestanden hatte, ihren Willen durchzusetzen?
    »Seht her!« sagte Cadfael und schlug das Leintuch zurück, um ihnen die Falten ihres Gewandes zu zeigen, so wie sie aus dem Eis aufgetaucht waren. Der schmutzigrote Streifen zog sich von ihrer rechten Schulter über den Ausschnitt ihres Unterkleides bis zu den Falten über der rechten Brust.
    »Ist sie erstochen worden?« fragte Hugh und sah Cadfael ins Gesicht.
    »Sie hat keine Wunde. Seht hier!« Er zog das Gewand beiseite. Auf der bleichen Haut waren nur ein oder zwei blaßrote Punkte zu erkennen. Er wischte sie weg und es blieb keine Spur zurück. »Nein, sie wurde gewiß nicht erstochen.
    Das Eis hat sie sehr schnell umschlossen und diese Spuren, so schwach sie auch sein mögen, bewahrt. Aber sie hat nicht geblutet. Wenigstens«, fügte er grimmig hinzu, »nicht hier und nicht aus einer Messerwunde. Wahrscheinlicher ist, daß sie sich gegen ihn - oder sie, denn solche Bestien greifen am liebsten im Rudel an - gewehrt und ihm eine Wunde beigebracht hat. Vielleicht hat sie ihm im Kampf das Gesicht, die Hand oder das Handgelenk aufgekratzt. Denkt daran, Hugh - und auch ich werde es nicht vergessen.« Ehrfürchtig deckte er sie wieder zu. Völlig unbewegt blickten die verschleierten Augen aus dem weißen Gesicht zur gewölbten Decke des Raumes empor und während die kurzgeschnittenen Locken trockneten, begannen sie zu schimmern wie ein Heiligenschein.
    »Dort sind blaue Flecken«, sagte Hugh und strich mit der Fingerspitze über ihre

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