Die Jungfrau Im Eis
seine Bemühungen fort und begann, die Nadel Stück für Stück herauszuziehen. Er befürchtete, er könnte sie aus purer Erschöpfung fallenlassen, wenn er sie schließlich aus den Falten des Umhangs befreit hatte. Wenn er sie erst in Händen hielt und die Arme sinkenlassen konnte bis er sie wieder gebrauchte, dann würde er seinen Plan auch in die Tat umsetzen können.
Der Verschluß löste sich und fast wäre ihm die runde Spange aus der Hand gerutscht. Verzweifelt schloß er beide Hände um sie. Die Nadel stach ihm in den Finger. Er war fast dankbar für den Schmerz, ließ seine bleichen Hände sinken, so daß das Blut in seine schmerzenden Arme fließen konnte und fühlte es aus der Wunde über seine Finger hinablaufen. Er wartete, bis er wieder Kraft in seinen Händen spürte, in denen er jetzt das kostbare Ding hielt, das scharf war wie ein Dolch. Einige Minuten lang verbarg er es zwischen seinen Handflächen. Er bewegte seine Finger, bis sie wieder gelenkig waren, dann erst wagte er, an die Ausführung seines Plans zu gehen.
Der gefüllte Ziegenschlauch schwang neben seiner Wange hin und her, und im Zwielicht der Morgendämmerung waren seine Bewegungen kaum auszumachen. Das Leder war zäh, obwohl es hier und da kahlgescheuert und an einigen Stellen schon weich und ausgebeult war, aber die Nadel der Spange war aus einem harten Metall und stand einige Zentimeter über den Ring hinaus. Er brauchte einige Sekunden, um sie am tiefsten Punkt in den hin-und herschaukelnden Ziegenschlauch zu stechen. Im entscheidenden Augenblick schwang er immer wieder von ihm weg, aber er lehnte sich mit der Schulter daran, um ihn festzuhalten und schließlich drang die Nadel ein.
Zu seiner Zufriedenheit sah er, daß ein dunkelroter Strahl aus dem Schlauch spritzte, als er sie wieder herauszog und hoffnungsvoll, ja fast erlöst, betrachtete er die plötzliche rote Spur, die sich im Weiß zu seinen Füßen fast wie Blut ausnahm.
Nach dem ersten Spritzer schloß das Loch sich zunächst wieder, aber durch den Druck des Weines blieb es gerade so weit geöffnet, daß die rote Flüssigkeit in kleinen Tropfen herausfloß. Jedenfalls würde es reichen. Er brauchte nicht zu befürchten, daß der Wein im Schnee versickern und die Spur damit unauffindbar sein würde, denn es war so kalt, daß es sofort gefror. Und so, spärlich tröpfelnd, würde der Inhalt des Schlauches lange reichen. Lange genug, hoffte er. Um zu verhindern, daß die Tropfen zu langsam fielen, um eine verwendbare Spur darzustellen, drückte er von Zeit zu Zeit auf das Leder und preßte einen kleinen Strahl heraus, der etwaigen Verfolgern bestätigen sollte, daß sie noch immer auf der richtigen Fährte waren.
Der Morgen war nun angebrochen. Um sie herum war alles grau und still, und Dunst zog herauf, der es unmöglich machte, Entfernungen abzuschätzen. Es war ein kalter Morgen. In der vagen Hoffnung, Futter zu finden, kreisten einige hungrige Vögel in der Luft. Die Räuber hatten den Zeitpunkt für ihre Rückkehr so gewählt, daß sie ihr Versteck erreichten, bevor es richtig hell war. Wenn sie es jetzt nicht mehr weit hatten, dachte Yves, würden sie den Verlust des Weines aus dem Schlauch bei ihrer Ankunft für natürlichen Schwund halten. Schon seit einiger Zeit hatte der Weg bergauf geführt. Sie befanden sich jetzt im kargen, unwirtlichen Hochland, das den Titterstone Clee umgab. Selbst im dichten Dunst kannten sie den Weg und wußten, daß sie ihrem Versteck näherkamen; sie freuten sich auf etwas zu essen, die Ruhe und die Sicherheit ihres Verstecks, begannen die Lasttiere anzutreiben und schlugen eine schnellere Gangart an.
Yves dachte an seine wertvolle Spange und schaffte es, sie in den Saum seines kurzen Wamses zu stecken, wo man sie nicht sehen konnte. So konnte er mit seinen gefesselten Händen wieder nach dem Seil greifen, dessen Schlinge sich unangenehm um seinen Hals zuzog, wenn er etwas zurückblieb und sich daran festhalten. Es konnte jetzt nicht mehr weit sein.
Sie hatten Heimatluft gewittert.
Immer weiter aufsteigend traten sie plötzlich aus der kahlen, nebligen Ödnis, in der das Auge selbst auf kurze Entfernung keine Umrisse wahrnehmen konnte, zwischen eng beieinanderstehende, niedrige Bäume, hinter denen, gerade noch erkennbar, steile Felsen aufragten. Dann schien es, als träten sie auf ein Gipfelplateau und vor ihnen erhob sich eine hohe Palisade mit einem schmalen Tor darin. Dahinter stand ein massiver dunkler Turm. Es war eine Wache
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