Die Jungfrau Im Eis
sprechen wenn ich etwas zu sagen habe.«
»Dann kann ich dir nur raten, dir jetzt gleich etwas einfallen zu lassen. Und zwar etwas, das dichter bei der Wahrheit liegt als das, was du mir dort unten hast aufbinden wollen.«
Yves hatte das Gefühl, daß Kühnheit hier nicht schaden konnte. Auf jeden Fall durfte er sich keine Angst anmerken lassen. »Ich habe Hunger, Herr«, sagte er also geradeheraus, »und das ist nicht gelogen. Ich nehme an, daß Ihr als Ehrenmann Wert darauf legt, Euren hochgestellten Gästen etwas zu essen zu geben.«
Der Löwe warf den Kopf in den Nacken und brach in ein schallendes Gelächter aus, in das die anderen einstimmten.
»Das klingt wie ein Geständnis. Also bist du aus adligem Geblüt? Dann sprich nur weiter und du wirst etwas zu essen bekommen. Aber keine Geschichte von verirrten Schafen! Wer bist du?«
Er wollte die Wahrheit hören. Und trotz seiner gegenwärtigen guten Laune war es ihm gleichgültig, welche Mittel er einsetzen mußte, um zu bekommen, was er wollte, sollte sich ihm jemand widersetzen. Yves überlegte einige Sekunden zu lang, was er sagen sollte und bekam einen Vorgeschmack dessen, was ihn erwartete, wenn er sich weiterhin weigerte zu reden. Ein langer Arm griff nach seinem Handgelenk und zwang ihn mit einer kleinen Drehung schmerzhaft auf die Knie. Die andere Hand packte seine Haare und riß ihm den Kopf in den Nacken, so daß er zu dem immer noch ruhig lächelnden Gesicht aufsehen mußte.
»Wenn ich frage, ist man gut beraten, mir zu antworten. Wer bist du?«
»Laßt mich los und ich werde es Euch sagen«, antwortete Yves mit zusammengebissenen Zähnen.
»Erst rede, Bursche, und dann werde ich dich vielleicht loslassen. Möglicherweise bekommst du dann auch etwas zu essen. Du magst ein kleines, stolzes Adelsküken sein, aber so manchem Hahn, der zu laut gekräht hat, hat man schon den Hals umgedreht.«
Yves schob sich ein wenig zur Seite, um den Schmerz erträglicher zu machen, holte tief Atem, damit seine Stimme nicht zitterte und sagte, wer er war. Dies war weder der geeignete Augenblick für unsinnigen Heldenmut noch für trotziges Beharren auf seiner Würde.
»Ich heiße Yves Hugonin und bin adliger Abstammung.«
Der Bärtige ließ ihn los und lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück. Sein Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. Er war keineswegs wütend gewesen - nicht Wut, sondern kalte Berechnung bestimmte alle seine Handlungen.
Raubtiere empfinden beim Töten keinen Haß, allerdings auch keine Reue.
»Ein Hugonin, was? Und was hattest du vor, Yves Hugonin, als wir dich dort unten aufgelesen haben, am frühen Morgen eines kalten Wintertages?«
»Ich wollte versuchen, nach Ludlow zu gelangen«, antwortete Yves. Er erhob sich von den Knien und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Er durfte nicht verraten, daß er nicht allein dort gewesen war; vorsichtig suchte er sich seinen Weg zwischen Wahrheit und Lüge. »Ich war auf der Klosterschule in Worcester. Die Mönche wollten nicht, daß mir beim Kampf um die Stadt etwas zustieß und schickten mich fort, als Worcester angegriffen wurde. Ich floh mit einigen anderen Leuten, und wir versuchten, eine Stadt zu erreichen, in der wir sicher waren, aber durch den Sturm wurden wir getrennt. Ich wurde von Bauern aufgenommen und versuchte, mich, so gut ich konnte, nach Ludlow durchzuschlagen.«
Hoffentlich klang seine Geschichte überzeugend. Er wollte nicht gezwungen sein, Einzelheiten zu erfinden. Mit Unbehagen dachte er an das Gelächter, mit dem sie seine Behauptung begrüßt hatten, er wohne in Whitbache. Warum hatten sie da nur gelacht?
»Und wo hast du dann die letzte Nacht verbracht? Doch nicht im Freien?«
»Nein, in einer Hütte in den Hügeln. Ich dachte, ich würde vor Abend noch nach Ludlow kommen, aber dann begann es zu schneien, und ich habe mich verlaufen. Als dann der Wind nachließ und es aufhörte zu schneien«, fuhr er fort, damit niemand ihn unterbrach und hierzu weitere Fragen stellte, »ging ich weiter. Und dann hörte ich Euch und dachte, Ihr könntet mir den rechten Weg zeigen.«
Der Bärtige betrachtete ihn nachdenklich. Um seinen Mund spielte ein beunruhigendes, kaltes Lächeln. »Und da bist du nun, hast ein solides Dach über dem Kopf, ein Feuer, an dem du dich wärmen kannst und bekommst zu essen und zu trinken, wenn du dich anständig benimmst. Das alles hat natürlich seinen Preis... Hugonin! Und Worcester... Bist du der Sohn von Geoffrey Hugonin, der vor ein paar
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