Die Jungfrau Im Eis
zu der unangenehmen Sorte: ein pockennarbiger Bursche mit einem struppigen Bart, einer breiten Nase, großen Fäusten und schmutzigen Fingernägeln, die schmerzhaft kneifen konnten. Die Begegnungen mit ihm hatten Yves bereits blaue Flecken eingetragen und als er ihn aus der Tiefe auf der Plattform auftauchen sah, biß er sich in düsterer Vorahnung auf die Unterlippe. Er wußte nicht, wie der Mann hieß. Vielleicht war er ungetauft und hatte keine richtigen Eltern gehabt, so daß er nie bei einem Namen, sondern nur mit irgendeinem Beinamen gerufen wurde.
Auch Guarin mochte ihn nicht allzusehr. Er fluchte darüber, daß die Ablösung so spät kam, wo sie doch schon vor Einbruch der Dunkelheit hätte erfolgen müssen. Die beiden Männer knurrten sich an, bevor Guarin die Leiter hinunterstieg und so hatte Yves Gelegenheit, sich in seinen geschützten Winkel zu drücken, um seine Anwesenheit nicht zu deutlich in Erinnerung zu rufen. Ihm stand eine Prüfung bevor. Aber irgendwo dort draußen, nicht mehr weit entfernt, war jemand, der ihm zu Hilfe kam.
Brummelnd kletterte Guarin die lange Leiter hinunter und Yves hörte, daß die Riegel vorgelegt wurden. Die Männer hatten ihre Befehle. Er war jetzt allein mit diesem unberechenbaren Mörder, der so weit gehen würde, wie es die Anordnungen seines Anführers erlaubten. Er würde es nicht wagen, Yves zu töten oder zu verstümmeln, aber ganz sicher glaubte er Erlaubnis zu haben, ihn zu quälen.
Seinen Rücken dem Wind zugekehrt, kauerte Yves sich in die Ecke. Sein neuer Bewacher ließ keinen Zweifel daran, daß er keine Sympathien für ihn empfand. Er gab Yves die Schuld dran, daß er eine ungemütliche Nacht hier oben in der klirrenden Kälte verbringen mußte, anstatt sich unten am Feuer wärmen zu können.
»Verdammtes Balg«, knurrte er und trat im Vorbeigehen nach den Beinen des Jungen, »wir hätten dir gleich dort, wo du uns über den Weg gelaufen bist, den Hals durchschneiden sollen!
Hätten die Soldaten dich tot gefunden, dann hätten sie nicht weiter nach dir gesucht und wir könnten hier immer noch ein schönes Leben führen.« Das war wohl richtig, mußte Yves zugeben, als er seine Füße einzog und sich tiefer in die Ecke verkroch. Er machte sich so klein wie möglich und sagte nichts, aber anstatt ihn zu besänftigen, schien sein Schweigen den Mann nur noch mehr in Wut zu bringen.
»Wenn es nach mir ginge, würdest du den Krähen zum Fraß an diesen Zinnen hängen. Und glaub nur nicht, daß du diesem Schicksal entgehen kannst. Jeder Handel, den wir eingehen, kann widerrufen werden, wenn wir erst einmal in Sicherheit sind! Was könnte uns davon abhalten, dir die Kehle durchzuschneiden, auch wenn wir uns freies Geleit mit deinem Leben erkauft haben? Los, du Ratte, antworte mir!«
Wieder trat er zu und stieß dem Jungen seinen Zeh in die Seite. Obwohl Yves sich schnell zur Seite gerollt hatte, gelang es ihm nicht ganz, dem Tritt auszuweichen. Vor Schmerz und Wut schrie er auf.
»Was euch davon abhalten könnte?« rief er. »Die Tatsache, daß euer Anführer sich noch dunkel an seine Erziehung erinnert und einen Rest von Ehre im Leib hat. Und du tust gut daran, seinen Befehlen aufs Wort zu gehorchen, denn im Augenblick bin ich für ihn weit wertvoller als du. Dich könnte er leichten Herzens an einer Zinne aufknüpfen, ohne dabei einen Verlust zu empfinden.« Er wußte, daß das dumm war, aber er war es leid, vernünftig und gegen seine Natur zu handeln. Er sah die große Hand, die ihn am Haar packen wollte und tauchte unter ihr hinweg. Auf diesem begrenzten Raum würde er wohl schließlich in die Enge getrieben werden, aber er war schneller und leichter als sein Gegner und auf jeden Fall war es wärmer, wenn man sich bewegte als wenn man stillsaß. Der Mann folgte ihm. Er war schlau genug, nur leise zu fluchen, denn wenn hier oben Lärm entstand, würde jemand heraufkommen und nachsehen, was der Grund dafür war. So murmelte er seine Verwünschungen, während er, mit den Armen rudernd, versuchte, Yves zu fangen. »So, du wirst unverschämt, kleine Ratte? Reißt das Maul auf, wo ich dir mit einer Hand den Hals umdrehen könnte? Ich muß dich wohl am Leben lassen, aber die Knochen kann ich dir immerhin brechen! Oder dir die Zähne in deinen großen Hals schieben!«
Als Yves ihm ein zweites Mal entschlüpfte sah er, daß sich hinter dem Rücken des Verfolgers die schwere Falltür langsam zu heben begann. Sie hatten ihre Aufmerksamkeit zu sehr aufeinander
Weitere Kostenlose Bücher