Die Jungfrau Im Eis
kroch ihnen die Kälte wieder in die Glieder. Guarin ging auf und ab, um sich zu wärmen und nach allen Richtungen Ausschau zu halten. Er beachtete seinen Gefangenen nicht, warf ihm nur hin und wieder einen Blick zu, der Yves daran erinnerte, daß er hilflos war und gut daran tat, keinen Fluchtversuch zu machen. Eine Weile fiel er in einen unruhigen Halbschlaf, aber als er erwachte, war er so kalt und steif, daß er aufstehen, mit den Füßen stampfen und mit den Armen schlagen mußte, um sein Blut wieder in Bewegung zu bringen. Sein Bewacher lachte darüber und ließ ihn nach Herzenslust herumspringen. Was konnte er schon unternehmen?
Die Abenddämmerung setzte ein. Yves ging hinter Guarin auf dem Turm auf und ab und sah durch die Schießscharten auf eine Welt herab, in der es nur Feinde zu geben schien.
Besonders auf der dem Abgrund zugewandten Seite des Turms lehnte er sich weit vor, konnte aber nur die Felskante und das Land weit unten erkennen. Auf dieser Seite des viereckigen Turms war sonst nichts außer dem Himmel zu sehen. Aber in der östlichen Ecke fand Yves einen Vorsprung im Holz, auf den er, als Guarin ihm den Rücken wandte, seinen Fuß stellen konnte, um eine bessere Sicht zu haben. Unter ihm war eine ebene Felsfläche und als er sich gefährlich weit vorbeugte, konnte er sehen, daß die Palisade sich nicht ganz um die Festung herumzog, sondern am Abgrund endete. Dort aber fiel die Steilwand nicht senkrecht ab - er konnte einige schneebedeckte Felsvorsprünge erkennen. Kein Lebenszeichen, wohin er sich auch wandte. Es sah so aus, als hätten ihn die Freunde, auf die er sich verließ, im Stich gelassen.
Aber etwas regte sich dort im Schnee, etwas war dort draußen auf dem Felsen. Yves glaubte seinen Augen nicht zu trauen als er sah, daß sich auf einem der Felsvorsprünge etwas bewegte. Einen Augenblick lang zeigte sich der Umriß eines Kopfes, das dunkle Gesicht eines Mannes, der die nächste Etappe einer einsamen, gefährlichen Kletterpartie berechnete.
Im nächsten Moment war dort, zehn Meter unterhalb der Stelle, an der die Palisade an den Abgrund stieß, nichts mehr zu sehen als Fels und Schnee. So sehr Yves seine Augen auch anstrengte - er konnte keine Bewegung mehr wahrnehmen.
Er hörte hinter sich einen Fluch und beeilte sich, von seinem Ausguck herunterzuspringen, noch bevor Guarin ihn packte und durchschüttelte. »Was hast du eigentlich vor? Du Dummkopf, dort kannst du nicht hinunter.« Er lachte bei dem Gedanken daran, sah aber glücklicherweise nicht in die Richtung, in die Yves geblickt hatte. »Wenn du da hinunterspringen willst, kannst du dir genausogut den Hals durchschneiden lassen.«
Er ging auf und ab, ohne die Schulter des Jungen loszulassen, als glaube er wirklich, seinem Gefangenen könne es sonst gelingen zu entfliehen. Das würde ihn teuer zu stehen kommen. Yves ließ sich herumstoßen und jammerte ein wenig über die rauhe Behandlung, um den Mann bei Laune zu halten und ihn abzulenken.
Jetzt war er sich nämlich sicher, daß er sich nicht getäuscht hatte: Dort unten in den Felsen war ein Mann. Ein Mann, der seine dunkle Kleidung unter einem weißen Leintuch verborgen hatte, damit er im Schnee nicht auszumachen war, der auf gefahrvolle Weise dorthin geklettert war, und zwar gewiß nicht vom Fuß des Berges, sondern Stück für Stück von der Stelle aus, an der die Bäume an den Abgrund stießen. Er hatte sich immer etwas unterhalb der Felskante gehalten und arbeitete sich langsam an der Palisade, vorbei zu dem Teil der Festung vor, die nicht bewacht wurde, weil man die Steilwand für unüberwindlich hielt. Und er war so diszipliniert, daß er sich auch in dieser eisigen Kälte langsam bewegen und selbst zu Eis erstarren konnte, um mit Schnee und Stein zu verschmelzen. Jetzt wartete er auf die Dunkelheit, bevor er es wagen konnte, den letzten, gefährlichsten Abschnitt seines Unternehmens hinter sich zu bringen.
Willig ging Yves dorthin, wohin die Hand an seiner Schulter ihn schob und ließ sich durch nichts anmerken, daß er nicht im Stich gelassen war, daß ein Held sein Leben für ihn aufs Spiel setzte und daß er selber Heldenmut aufbringen mußte, damit alles sich zum Guten wendete. Nein, er durfte nicht versagen.
Dunkelheit hatte sie umschlossen und nun war es Guarin, der sich beklagte. Schließlich kam seine Ablösung die Leiter hinaufgestiegen, schob die Riegel zurück und stieß die Falltür auf, um auf die Plattform zu klettern.
Sein neuer Bewacher gehörte
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