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Die Jungfrau Im Eis

Die Jungfrau Im Eis

Titel: Die Jungfrau Im Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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konzentriert, um zu bemerken, daß die Riegel, allerdings ungewöhnlich leise und vorsichtig, zurückgeschoben worden waren. Den Kopf, der sich nun aus dem Dunkel des Turmes in das abendliche Zwielicht schob, hatte Yves noch nie zuvor gesehen und so lautlos stieg der Mann auf die Plattform, daß das Herz des Jungen vor verzweifelter Hoffnung einen Sprung tat. Instinktiv wußte er beim ersten Anblick des Mannes, daß dieser nicht zu der Bande von Mördern und Dieben gehören konnte. Gerade setzte er den Fuß auf die Bohlen und richtete sich auf und wenn der Bewacher sich umdrehte, würde er dem anderen gerade ins Gesicht sehen. Nein, umdrehen durfte sich dieser tobende Kerl jetzt nicht! Aber wenn Yves ihm jetzt auswich, würde er das tun, damit er ihn zu fassen bekam und ihn schlagen konnte.
    Yves glitt auf dem gefrorenen Schnee aus, oder jedenfalls schien es so, und eine riesige Faust traf ihn an der Brust und warf ihn hart gegen die Brustwehr. Die andere packte sein Haar und riß ihm den Kopf zurück. Der Rohling spuckte ihm ins Gesicht und lachte triumphierend. Yves konnte sich nicht wehren und versuchte, so gut er konnte, auszuweichen, aber er sah, daß der Fremde sich zu seiner vollen Größe aufrichtete und geräuschlos, ohne Eile die Falltür wieder schloß, wobei er die beiden, die an der Brustwehr miteinander kämpften, nicht aus den Augen ließ. Offenbar vergaß er über der Rettung nicht, die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Über dieses große Lob schwoll Yves' Herz vor Bewunderung und Dankbarkeit, denn gerade war ihm zu verstehen gegeben worden, daß seine Vorstellung verstanden worden und er nicht mehr ein bloßes Opfer war, sondern ein Verbündeter in diesem seltsamen, geheimen Unternehmen.
    Er sah, daß der Mann einen schnellen, lautlosen Schritt auf sie zu machte, aber dann wurde sein Kopf von einem heftigen Schlag auf die Wange zur Seite gerissen und gleich darauf traf ihn ein zweiter von der anderen Seite, der ihn schwindlig und halb bewußtlos machte. Um sicherzugehen, brach er in verzweifeltes Winseln aus - nicht allzu laut, aber laut genug, um die Geräusche des anderen zu überdecken, der jetzt schon ganz nah sein mußte: »Nein, nicht! Ihr tut mir weh! Laßt mich los! Es tut mir leid, es tut mit leid... Bitte, schlagt mich nicht...«
    In seiner Stimme lag etwas Triumphierendes, aber dieser Mensch bemerkte es nicht. Gehässig lachte er leise vor sich hin.
    Er lachte immer noch, als sich ein langer Arm vor sein Gesicht legte, ihm den Mund verschloß und ihn rücklings auf die Bohlen warf. Der langbeinige, kräftige Jüngling ließ sich auf ihn fallen, stieß ihm ein Knie in den Bauch und nahm ihm dadurch den Atem. Dann riß er ihm den spitzen Helm ab und zog seinen Kopf hoch, um ihn gleich darauf mit unvermuteter Kraft auf die Bohlen zu schlagen. Steif und stumm wie ein toter Fisch lag Yves' Bewacher auf dem Boden.
    Wie ein junger Falke stürzte Yves aufgeregt hinzu und löste den Gürtel, an dem Schwert und Dolch des Bewachers hingen.
    Seine Hände zitterten, aber er ging eifrig zu Werk, zog den Gürtel aus dem Waffengehänge und gab ihn dem Fremden, der ruhig und geduldig darauf gewartet hatte und nun die Oberarme des Räubers damit fesselte, so daß die Hände auf dem Rücken lagen, bevor er seinen jungen Helfer genauer betrachtete. Hier oben auf dem Turm leuchteten nur die Sterne, aber in ihrem klaren, reinen Licht war es unverkennbar, daß er lächelte. Er griff in die Brust seines braunen Wamses aus handgesponnenem Stoff, zog ein zusammengerolltes Stück weißes Leinen hervor und hielt es Yves hin.
    »Wisch dir dein Gesicht ab«, sagte eine ruhige, leise Stimme, in der Lächeln und Anerkennung mitschwangen, »bevor ich diesem Schreihals den Mund damit stopfe.«

12. Kapitel
    Fasziniert und ehrfürchtig schweigend wischte Yves sich den Speichel aus dem Gesicht. Er wandte seine Augen keinen Moment lang von dem Gesicht des Mannes, der auf der anderen Seite des hingestreckten Körpers seines Feindes kniete. Seine Zähne leuchteten weiß im schwachen Licht der Sterne und seine Augen schimmerten wie Bernstein. Die Kapuze war zurückgeglitten und enthüllte zerzaustes Haar, das jedoch nicht gelockt war, sondern sich wie eine eng anliegende Kappe an den schön geformten, edlen Kopf schmiegte. Jede Linie seines Gesichtes und jede Geste verriet seine Kühnheit und Jugend. Yves sah ihn an und war hingerissen. Er hatte schon vorher Idole verehrt, unter anderem seinen Vater, aber hier war ein

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