Die Jungfrau Im Eis
neuer Held, der jung und vor allem greifbar war.
»Gib her!« sagte sein neuer Verbündeter kurz und schnippte mit den Fingern nach dem Leinentuch. Yves beeilte sich, es ihm zu reichen. Ein Ende des Tuches wurde Yves' bewußtlosem Bewacher in den Mund geschoben, der Rest wurde ihm um den Kopf gewickelt, damit er, wenn er erwachte, nichts hören und sehen konnte. Das andere Ende schließlich knotete der Mann an dem Gürtel fest, mit dem bereits die Arme des überwältigten Räubers gefesselt waren. Um auch seine Beine binden zu können, zogen sie die Lederriemen aus seinem Wams, schnürten seine Füße bei den Knöcheln zusammen und bogen sie so weit zurück, daß sie mit dem Rest der Riemen auch seine Hände auf dem Rücken fesseln konnten. Schließlich lag er da wie eines jener kompakten, verschnürten Bündel, die man Lastponys auflegt. Mit großen Augen bestaunte Yves die Umsicht, die sein neuer Freund dabei an den Tag legte.
Einen Augenblick lang sahen sie einander zufrieden an. Yves öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber der andere legte einen Finger warnend an die immer noch lächelnden Lippen.
»Warte!« sagte die tiefe, gelassene Stimme halblaut. Ein Flüstern läßt sich nicht identifizieren, aber es ist gefährlich weit zu hören. Dieses gedämpfte Murmeln jedoch drang nur an das Ohr des Jungen. »Laß uns sehen, ob wir auf dem Weg fliehen können, den ich gekommen bin.«
Yves gehorchte wie verzaubert. Bebend duckte er sich zusammen und lauschte angestrengt. Der andere lag, ein Ohr an das Holz gepreßt, auf der Falltür, öffnete sie nach einigen Augenblicken vorsichtig einen Spaltbreit und sah hinab in das nach Holz duftende Dunkel des Turmes. Vom Hof und vom Wehrgang draußen hörte man die Bewegungen und Stimmen des alarmbereiten Lagers, aber unten, zwischen dem Schatten der Balken, war alles still und ruhig.
»Jetzt können wir es versuchen. Bleib dicht hinter mir und tu alles, was ich tue.«
Er hob die Falltür auf und kletterte, behende wie eine Katze, die Leiter hinunter. Yves folgte ihm. Im Dämmerlicht des Absatzes, den sie nun erreicht hatten, hielten sie inne und drückten sich in den dunkelsten Winkel, aber nichts Bedrohliches regte sich. Von hier aus führten rohe, aber festgefügte Stufen weiter hinunter. Bald hatten sie das mittlere Stockwerk des Turms erreicht und konnten das Stimmengewirr und die Geräusche hören, die von reger Geschäftigkeit im großen Saal zeugten und durch die Ritzen einer großen Tür das Flackern des Feuers und der Fackeln dort unten sehen.
Eine Treppe noch und dann würden sie den Fuß des Turms erreicht haben. Dort war auch der Saal und nur eine Tür würde sie von Alain le Gaucher und seiner Bande trennen. Der Jüngling zog Yves mit seinem langen Arm an sich und hielt ihn fest. Wachsam beobachtend und horchend stand er da. Das Fundament des Turms bestand zur Hälfte aus Felsen, zur anderen Hälfte aus gestampfter Erde und die Luft, die von dort zu ihnen hinaufstrich, war kälter als die zwischen den Holzwänden weiter oben. Angstvoll beugte Yves sich vor und sah in einer Ecke dort unten eine steinerne Nische, von der ein starker Zugwind zu ihnen heraufwehte. Das mußte die schmale Tür sein, die hinaus in die Nacht führte und durch die sein Retter in den Turm gelangt war. Wenn sie es schafften, sie unbemerkt zu erreichen, dann mochte ihnen die Flucht aus dem Räubernest auf diesem Weg gelingen. Mit diesem außergewöhnlichen Mann als Führer würde er sich nicht einmal fürchten, die Steilwand bei Nacht zu durchklettern. Was einer allein fertiggebracht hatte, das konnten auch zwei gemeinsam zuwege bringen.
Die erste Stufe der letzten Treppe verriet sie. Bis dahin war alles glattgegangen, aber sobald ein Fuß dieses krumme Brett berührte, gab es mit einem lauten Klappen nach und durch den Hall in den Winkeln des Treppenhauses wurde dieses Geräusch noch verstärkt. Aus dem Saal erscholl ein Alarmruf, man hörte das Trappeln von Füßen und dann wurde die große Tür aufgerissen und im Feuerschein stürzten bewaffnete Männer heraus.
»Zurück!« rief der Fremde sofort, drehte sich ohne zu zögern um, packte den Jungen und hob ihn die Treppe hinauf, die sie gerade heruntergeschlichen waren. »Auf das Dach, schnell!«
Es gab keinen anderen Fluchtweg und es konnte nur einen Moment dauern, bis sich die Augen der Männer aus dem hellbeleuchteten Saal an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Und dieser Augenblick war bereits vergangen - der erste stieß wütend
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