Die Jungfrau Im Eis
einzustürzen und ihn unter sich zu begraben. Und dann stand er auf... ich konnte ihn nicht aufhalten. Ich wollte Euch holen, aber alle waren bei der Komplet.«
»Und dann ranntest du zu ihm zurück«, sagte Cadfael sanft, »und er war fort. Da bist du ihm nachgegangen.«
»Ich mußte... schließlich sollte ich mich ja um ihn kümmern.
Ich dachte, irgendwann würde er schon müde werden und dann könnte ich ihn zurückführen, aber so war es nicht. Was blieb mir also anderes übrig, als mit ihm zu gehen?«
»Und er führte dich zu der Hütte - ja, das haben wir herausgefunden. Und dort sagte er die Worte, die dich so quälen. Hab keine Angst sie auszusprechen. Bei allem, was du getan hast, wolltest du nur sein Bestes. Sei darum getrost - auch dies wird zu seinem Besten sein.«
»Aber er sagte, daß er es gewesen sei, der Schwester Hilaria umgebracht hat!« flüsterte Yves, der bei dem bloßen Gedanken daran zitterte.
Cadfaels Schweigen ließ ihn in verzweifelte Tränen ausbrechen. »Er war so gequält, so zerrissen... wie können wir ihn als Mörder ausliefern? Und doch dürfen wir die Wahrheit nicht verschweigen! Das hat er selber gesagt. Aber ich bin sicher, daß er nicht schlecht ist, sondern gut. Oh, Bruder Cadfael, was sollen wir nur tun?«
Cadfael beugte sich über den schmalen Tisch und nahm die zu Fäusten geballten Hände des Jungen in die seinen. »Sieh mich an, Yves, und ich werde dir sagen, was wir tun sollen: du mußt deine Angst überwinden und versuchen, dich an seine genauen Worte und alle Einzelheiten zu erinnern, wenn du kannst. ›Er sagte, daß er es gewesen sei, der Schwester Hilaria umgebracht hat. ‹ Hat er das wirklich gesagt? Oder hast du das aus dem, was er sagte, nur abgeleitet? Wiederhole mir seine genauen Worte und ich werde aus ihnen - und nur aus ihnen! - meine Schlüsse ziehen. Laß uns gleich damit anfangen!
Erinnere dich an die Nacht in der Hütte. Elyas hat im Schlaf gesprochen. Erzähl mir davon. Laß dir Zeit, wir haben keine Eile.«
Yves wischte sich die Tränen mit seinem Ärmel von der Wange und sah Cadfael zweifelnd, aber vertrauensvoll an.
Gehorsam ließ er seine Gedanken zurückschweifen, biß sich auf seine zitternde Unterlippe und begann stockend: »Ich glaube, ich war eingeschlafen, obwohl ich wach bleiben wollte.
Er hatte sein Gesicht auf die Arme gelegt, aber ich konnte seine Stimme deutlich verstehen. Er sagte: ›Meine Schwester, vergib mir meine Schwäche, meine Todsünde - mir, der ich deinen Tod auf mich geladen habe!‹ Ja, das hat er gesagt, Wort für Wort, ich bin ganz sicher. ›Mir, der ich deinen Tod auf mich geladen habe!‹« Zitternd hielt er inne. Er befürchtete, dies könne schon genug gewesen sein. Aber Bruder Cadfael hielt seine Hände, nickte verstehend und wartete.
»Ja, und weiter?«
»Und dann - erinnert Ihr Euch, wie er Hunydd rief? Und wie Ihr sagtet, das sei seine Frau gewesen, die gestorben war? Das Nächste, was er sagte, war: ›Hunydd! Sie war wie du, genauso warm und vertrauensvoll in meinen Armen. Ein halbes Jahr Hunger‹, sagte er, ›und dann plötzlich dieses Sehnen. Ich konnte es nicht ertragen‹, sagte er, ›dieses Brennen in Leib und Seele...‹«
Die Worte fielen ihm jetzt alle wieder ein, als hätten sie sich tief in sein Gedächtnis eingegraben. Bis jetzt hatte er sich gewünscht, sie zu vergessen, aber nun, da er sich an sie erinnern wollte, hatte er sie wieder deutlich im Ohr. »Weiter.
Was kam dann?«
»Dann veränderte er sich und er sagte: ›Nein, vergib mir nicht! Soll die Erde sich öffnen und mich verschlingen. Ich bin verzagt, wankelmütig, unwürdig...‹« Es entstand eine lange Pause, wie in jener Nacht, bevor Bruder Elyas seine Verfehlung hinausgeschrien hatte. »Er sagte: ›Sie hat sich an mich geschmiegt, sie empfand gar keine Furcht. ‹ Und dann sagte er:
›Gnädiger Gott, ich bin ein Mann aus Fleisch und Blut, ich habe eines Mannes Körper und Begierden. Und sie, die mir vertraut hat‹, sagte er, ›ist nun tot!‹«
Mit bleichem Gesicht sah er Bruder Cadfael an. Er wunderte sich, daß dieser so ruhig und gedankenvoll dasaß und ihn ernst anlächelte.
»Glaubt Ihr mir nicht? Ich habe Euch die Wahrheit gesagt - genauso ist es gewesen.«
»Ja, ich glaube dir. Gewiß hat er das alles gesagt. Aber denk einmal nach: sein Reiseumhang lag in der Hütte, zusammen mit ihrem Gewand und ihrem Umhang. Aber alle Kleidungsstücke waren versteckt! Und sie ist von dort weggebracht und in einen Bach
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